Diesem Anfang wohnte ein Zauber inne. Seit gut einem halben Jahr ist Boris Pistorius der 20. Verteidigungsminister der Bundesrepublik. Binnen kürzester Frist wurde er zu Deutschlands beliebtestem Politiker. Er sieht aus wie ein Verteidigungsminister, spricht wie einer, kennt die Dienstgrade, und nach drei Vorgängerinnen ist mit ihm jetzt wieder mal ein Mann dran. Seine Popularität lebt nicht zuletzt vom Kontrast.
Dass frühe Höhenflüge allerdings auch gefährlich sein können, wird der erfahrene Kommunal- und Landespolitiker wissen. Sympathische Hoffnungsträger wie Martin Schulz oder Karl-Theodor zu Guttenberg (oder vielleicht gerade Robert Habeck) verglühten, bevor sie echten Ruhm ernten konnten.
Leicht ist Pistorius‘ historische Aufgabe wahrlich nicht. Für die Regierung Scholz dürfte das erste Jahr der deutschen „Zeitenwende“-Politik mit einer bemerkenswert ungeeigneten Verteidigungsministerin als grandios vergeudet gelten. Um so schneller muss nun der Krisennachrücker Pistorius liefern. Überfällige Entscheidungen zu Umgliederung und Wiederbewaffnung der Bundeswehr müssen sich vor der nächsten Bundestagswahl 2025 spürbar auswirken.
Die Maßstäbe für „spürbar auswirken“ ergeben sich a) aus den von Deutschland akzeptierten Forderungen der Nato – sie wieder nicht zu erfüllen, wäre eine aussenpolitische Bankrotterklärung – und b) aus der Stimmung in der Truppe: Wieder hohe Erwartungen zu wecken, um sie dann zu enttäuschen, würde zu Frustration und innerer Kündigung führen.
Illusionen über die schwierige Ausgangslage macht sich nach dem Lambrecht-Abgang vermutlich niemand mehr im Bendlerblock: Das Geld wird nicht reichen. Das Personal wird nicht reichen. Und die alten Organisationsstrukturen fressen jeden Tag zusätzliches Geld und fordern zusätzliches Personal für nichts. Ohne Reform blieben weite Teile der Bundeswehr dysfunktional.
Nun gibt es jedenfalls Extra-Geld, aber die Kerze wird von beiden Seiten gleichzeitig abgebrannt. Auf der einen Seite ersetzt das Sondervermögen mehr und mehr den schrumpfenden Beschaffungsanteil im gedeckelten regulären Verteidigungshaushalt. Auf der anderen Seite verzehren Zinsen, Inflation und das teure Herumdoktern an Fehlern der Vergangenheit (Puma, Hubschrauber) zu viel Substanz.
Bleibt die Hoffnung auf den grossen Sprung des Verteidigungsetats nach Ausschöpfung der Extra-Mittel, etwa 2028. Dann wären von jetzt auf gleich um die 25 Milliarden Euro zusätzlich für Verteidigung zu veranschlagen. Sie müssten an anderer Stelle im Haushalt eingespart werden. Aber wie realistisch ist das? Und wen träfe es?
Im Moment jedoch ist nicht Geldfinden, sondern Geldausgeben Pistorius‘ Hauptproblem. Um 2024 endlich die Zwei-Prozent-Marke zu erreichen, sollen im kommenden Jahr 20 Milliarden aus dem Sondervermögen abfliessen (dieses Jahr 8 Milliarden). Wer in der Vergangenheit verfolgt hat, wie schwer sich Ministerium und Beschaffungsamt regelmässig mit dem Mittelabfluss tun (2022 blieben zwei von zehn Milliarden, die für RüInvest im regulären Haushalt standen, liegen), wird die Aufgabe des Mehr-Geld-Ausgebens nicht für banal halten. Erste Reformideen zur Verfahrensbeschleunigung sind in Umsetzung. Und die Entlastung der Koblenzer Behörde vom MatErhalt wäre sehr wünschenswert. Besser gestern als morgen!
Bisher öffentlich wenig diskutiert, aber potenziell dramatisch entwickelt sich die Personallage der Bundeswehr. Während einzelne Organisationsbereiche weiterhin ungeniert zusätzliche Dienstposten für weitere Vakanzen fordern, bricht die Zahl der Neueinstellungen in wichtigen Bereichen stark ein. Schon das schwache Ist bröckelt. Das Soll zu erhöhen, scheint da abstrus.
Von der demographischen Entwicklung ist keine Rettung zu erwarten. Helfen kann gewiss die Dezentralisierung der Personalwerbung (und -einstellung), wird aber nicht sofort Wunder bewirken. Deshalb sollte man sich ehrlich machen und mit einer realistischen Zahl von Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten kalkulieren. Hohle Strukturen schrecken nicht ab.
Eine innere Strukturreform kann dagegen viel militärisches Personal für militärische Kernaufgaben frei machen. Weniger Stäbe, mehr Truppe! Schluss mit Doppel- und Anti-Arbeit! Und: Verwendung von ehemaligen Zeitsoldaten in zivil umgewandelten Funktionen der Verwaltung, Ausbildung und technischen Unterstützung!
Im Verteidigungsministerium mag es Tendenzen geben, auch den neuen Minister auszusitzen und abzuwettern. Es wäre nicht das erste Mal. Selbst im Dysfunktionalen kann man sich gemütlich einrichten. Nicht jeder propagiert Veränderung. Manche warnen vor „zu viel Reform“. Andere mahnen, dass man nicht alles gleichzeitig angehen könne. Nur keine „Unruhe“ in die Truppe tragen, scheint hier die Devise zu sein.
Die Truppe allerdings erwartet umfassende Verbesserungen. Und ohne durchgreifende Reform der Strukturen wird Verbesserung nicht zu haben sein. Analysen, Konzepte und Pläne liegen vor, eigentlich entscheidungsreif. Je länger man wartet, je kleinteiliger die Gefechte um Referatsgrenzen und Dotierung werden, desto grösser das Risiko, dass am Ende schon das Klein-Klein mit der Reform verwechselt wird.
Pistorius‘ Zusage für die Litauen-Brigade könnte paradigmatisch für einen neuen „Zeitenwende“-Stil stehen: Politische Entscheidungen ziehen militärische Ausplanungen nach sich, nicht umgekehrt. So war es auch mit den Kanzler-Entscheidungen zur nuklearen Teilhabe, zum Sondervermögen und zum Raketenabwehrschirm. Im englischen Fussball heisst diese Methode, das Leder nach vorn zu spielen, „kick and rush“. Wenn es ernst wird, ist das allemal besser, als den Ball in der eigenen Hälfte hin und her zu schieben.
Dieser Artikel erschien ebenfalls als Kolumne in der Europäische Sicherheit & Technik am 31. Juli 2023.
Es gilt also das alte Motto:
Es ist nicht gesagt das es besser wird wenn wir etwas ändern. Aber soll es besser werden müssen wir etwas ändern!
Ich frage mich, ob die Abkehr von der verbindlichen 2%-Zusage kurz nach dem NATO-Gipfel nicht bereits an der Glaubwürdigkeit und Stetigkeit unseres Ministers bei den NATO-Verbündeten und auch in der eigenen Bevölkerung rührt?