Der Sanierungsfall Bundeswehr könnte in gewisser Weise auch als Sinnbild dafür stehen, welche öffentlichen Einrichtungen sonst noch über die letzten Jahrzehnte prekär geworden sind. Viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger haben das Gefühl, dass Deutschlands Infrastruktur immer schlechter funktioniert, von Eisenbahn und Flughäfen über Strassen, Brücken und Schultoiletten bis zu Arztterminen, Pflegenotstand und der Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte. Die politischen Rechtfertigungen laufen meist auf „zu wenig Geld“ und „zu wenig Personal“ heraus.
Ich glaube, in Wirklichkeit entstehen viele Defizite durch die sehr deutsche 150-Prozentigkeit unserer regulatorischen Ansprüche. Die Eskalation von Vorschriften und Bestimmungen, Grenzwerten, Quoten, Genehmigungs- und Einspruchsvorbehalten in jedem einzelnen Fall hemmt die Funktionsfähigkeit des Ganzen. Wir stecken fünfzig Prozent unseres Aufwandes an Zeit und Geld in die letzten zwei Prozent vermeintlicher Perfektion eines jeden Projekts. Deshalb dauert alles immer länger und kostet immer mehr. Umso weniger können wir uns dann „leisten“.
Dass es nun mit der Bereitstellung von Flüssiggas-Terminals innerhalb weniger Monate, wo man sonst in Jahren rechnen müsste, gelungen ist, eine kriegsbedingte Energiemangellage zu vermeiden, zeigt, dass es durchaus anders geht.
Wenn sich diese neue „Deutschland-Geschwindigkeit“, so Bundeskanzler Olaf Scholz, auch auf die Bundeswehr übertragen liesse, könnte begründeter Optimismus ausbrechen. Die bange Frage lautet aber: Bekommt Verteidigungsminister Boris Pistorius die neue Richtgeschwindigkeit hin?
Mit jeder Schrumpfung und jeder Bundeswehrreform nach dem Ende des Kalten Krieges war stets der Anspruch verbunden gewesen, nun etwas Kleineres, Besseres, Hochwertigeres zu schaffen. „Kleiner“ hat geklappt. Seit Putins erstem Ukrainekrieg 2014 war dann aber eigentlich klar, dass ab sofort eine zügige Wiederbewaffnung des deutschen Militärs das Gebot der Stunde ist.
Der Verteidigungsetat wuchs seitdem tatsächlich von 32 Milliarden Euro 2014 auf 50 Milliarden 2022, also um mehr als 50 Prozent in acht Jahren (allerdings immer noch deutlich unter der in der Nato vereinbarten Zwei-Prozent-Quote). Die materielle Einsatzbereitschaft blieb derweil prekär.
Weil die Effekte der zusätzlichen „Trendwende“-Milliarden (so die Parole der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen) deutlich zu gering ausfielen, hat Bundeskanzler Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede am 27. Februar 2022, drei Tage nach Russlands Überfall auf die Ukraine, die Bereitstellung eines Spezialfonds von einmalig 100 Milliarden Euro für die Vollausstattung der Bundeswehr angekündigt.
Damit dieses Extra-Geld nun aber wirklich die Kampfkraft der Truppe steigert und nicht wieder der Eindruck entsteht, dass der überorganisierte Wehrapparat noch jede zusätzliche Haushaltsmilliarde ohne erkennbare Verbesserung der Einsatzbereitschaft mühelos absorbiert, muss das Beschaffungs-Management unserer Streitkräfte radikal reformiert werden.
Mit einer halb ironischen Nebenbemerkung hat kürzlich der neue Generalinspekteur Carsten Breuer darauf hingewiesen, dass es wohl jedenfalls eine der Aufgaben des bisherigen Beschaffungsprozesses gewesen sei, möglichst wenig Geld auszugeben. Denn in den Jahren des Schrumpfens der Bundeswehr schrumpfte auch der jährliche Haushaltsanteil für Rüstungsinvestitionen auf (am Tiefpunkt) fünf Milliarden Euro (und selbst davon wurde eine Milliarde gar nicht ausgegeben).
2022 standen 10 Milliarden Euro im regulären Haushalt für militärische Beschaffungen zur Verfügung (wovon wiederum 2 Milliarden nicht ausgegeben wurden). Hinzu kommen in den nächsten Jahren nun aber die erheblichen Zuflüsse aus dem Sondervermögen, das eigentlich innerhalb von fünf Jahren verbraucht sein sollte. So schnell wird es natürlich nicht gehen, es dürfte länger dauern, die Mittel tatsächlich abfliessen zu lassen. Und es stehen auch nicht wirklich 100 Milliarden bereit, sondern, wenn man 13 Milliarden für Zinszahlungen abzieht, 87 Milliarden.
Doch auch das ist sehr viel Geld, das verteilt auf vielleicht sieben Jahre gut zwölf Milliarden Euro jährlich zur Beschaffung von Rüstungsgütern zusätzlich bedeutet. Ausserdem soll ja auch der reguläre Verteidigungshaushalt von heute 1,5 Prozent des BIP auf zwei Prozent steigen, was ebenfalls zusätzliche Rüstungsmilliarden mobilisieren würde. Das Beschaffungswesen müsste also quasi von jetzt auf gleich in der Lage sein, statt acht Milliarden Euro Jahr für Jahr 25 Milliarden für neue Ausrüstung tatsächlich auszugeben. Unter den gegebenen Bedingungen: nicht zu schaffen. Ohne Veränderung von Institutionen und Regelwerk würde in der Bundeswehr das Kanzler-Projekt „Zeitenwende“ scheitern.
Bisher lauteten offenbar die drei obersten Maximen für die amtliche Beschaffungsorganisation: erstens „rechtssichere Vergabe“ (angesichts zahlreicher Rüstungsskandale und Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse), zweitens „europaweite Ausschreibung“ (weil Deutschland hier vorbildlich sein will) und drittens „zivile Standards“ (auch wenn der geforderte Arbeitsschutz für Schwangere im hinteren Kampfraum eines Schützenpanzers unter keinen Umständen kriegsentscheidend wäre).
Für diese axiomatischen Setzungen, die viel Zeit und Geld verschlingen, kann man gewiss gute Gründe anführen, sie treffen aber nicht den Hauptzweck der staatlichen Rüstungsanstrengungen: voll aufgestellte, kampfstarke Streitkräfte für die Landes- und Bündnisverteidigung komplett auszurüsten. Doch darum geht es seit Putins Überfall auf die Ukraine und den russischen Atomschlagsdrohungen gegen den Westen mehr denn je.
Nicht der djihadistische Gemüsemann auf dem Marktplatz von Kundus, der möglicherweise eine Sprengstoffweste unter seinem Gewand trägt, ist heute die wahrscheinlichste Gefahr, sondern die russischen Streitkräfte, die unsere osteuropäischen Bündnispartner bedrohen. Dagegen brauchen wir heute zum Beispiel: Raketenabwehr, die Fähigkeit zur nuklearen Teilhabe und verlegebereite Heeresbrigaden.
Weil aber das fortbestehende Problem der Mangelausstattung wirklich dramatisch ist und sich nicht länger durch ein „dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“ überbrücken lässt, hat nun Verteidigungsminister Pistorius seinen Rüstungs-Staatssekretär Benedikt Zimmer eine neue Alarm-Doktrin verkünden lassen. Darin heisst es: „Der Faktor Zeit hat höchste Priorität und ist mit sofortiger Wirkung als der wesensbestimmende Faktor aller laufenden und neuen Rüstungsvorhaben der Bundeswehr massgebend, um materielle Bedarfe der Streitkräfte deutlich schneller, effektiver und unbürokratischer als bisher zu decken.“
Entgegen der bisherigen Priorität auf verabsolutierten militärischen „Forderungen“, die in endlosen Entwicklungsprogrammen (gern multinational) für neue Waffensysteme münden, heisst es jetzt: „Marktverfügbarkeit ist die grundsätzlich vorzusehende Lösung.“ Und: „Das Eingehen technischer Realisierungsrisiken ist mit Blick auf Zeit und Kosten grundsätzlich zu vermeiden.“ Es gilt, zügig fertig zu werden. Die nächsten Projekte warten schon.
Zum selbstgemachten Bürokratie-Overkill heisst es in der Weisung zur neuen militärischen Deutschland-Geschwindigkeit: „Soweit bundeswehrinterne untergesetzliche Regelwerke die gesetzlichen Regelungen verschärfen, sind diese hiermit ausgesetzt.“ Und schliesslich: „Alle vergaberechtlichen Möglichkeiten zur Beschleunigung von Verfahren sind konsequent auszuschöpfen.“
Damit ist der politische Führungswille eindeutig zum Ausdruck gebracht. Dennoch wird es weitere Mühe machen, Hunderte, wenn nicht Tausende von Vorschriften entsprechend anzupassen. Denn längst nicht immer dürfte auf den ersten Blick klar sein, welche Bestimmungen von dem Verdikt „hiermit ausgesetzt“ betroffen sind.
Damit nicht genug wird gleichzeitig mit dem Durcharbeiten der normativen Beschaffungs-„Software“ der Verteidigungsminister an eine Änderung der institutionellen „Hardware“ gehen müssen. Auch hier muss es heissen: Weniger ist mehr! Vor der Bundeswehrreform von 2011 (Guttenberg/deMaiziere) gab es zum Beispiel keine eigene ministerielle Planungsabteilung und kein nachgeordnetes Planungsamt. Deren Aufgaben könnten nun wieder integriert werden in die Zuständigkeiten von Rüstungsabteilung, Beschaffungsamt und Teilstreitkräften.
Zugleich sollte das Beschaffungsamt in Koblenz von Aufgaben entlastet werden: Die zentralisierte Verantwortung für die Materialerhaltung könnte zurückverlagert werden zu den „Nutzern“, den TSK Heer, Luftwaffe, Marine usw. (wie vor 2011). Und für Allerweltsbeschaffungen sollten die Bundeswehrdienstleistungszentren, deren Bundesamt, die Truppe selbst sowie andere geeignete Institutionen (etwa des Sanitätsdienstes) sorgen können. Da arbeiten überall Erwachsene. Aber zur institutionellen Reform ist bisher noch nichts entschieden.
Was nicht erforderlich sein wird, ist zusätzliches Personal. Stete Personalmehrforderungen können geradezu ein Gradmesser bürokratischer Dysfunktionalität sein. Dass die unterschiedlichen Bundesregierungen in den vergangenen zehn Jahren ihr Personal in den Bundesministerien um 40 Prozent vermehrt haben, kann kaum mit einem entsprechenden Quantum zusätzlicher Aufgaben oder einer enormen Verbesserung der Qualität politisch-administrativer Arbeit zu tun haben. Stattdessen dürfte das Mass an Selbstreferenzialität gestiegen sein. Und eingestellt wird deshalb – weil man es kann.
Wenn nun aber die dargestellten normativen und institutionellen Veränderungen gelingen, könnte die Bundeswehr-Rüstung, deren Kümmernisse heute ein Symbol für viele andere prekär gewordene Strukturen in Deutschland geworden sind, zum Modell für ein erfolgreiches Umsteuern werden.
Parallel dazu will Minister Pistorius noch in diesem Sommer die Organisation des Verteidigungsministeriums selbst straffen, also etwa Abteilungen zusammenlegen oder auflösen.
Entscheidend wird neben der Rüstungsbeschleunigung am Ende aber sein, dass die verbesserte Ausstattung nicht weiter auf hohle Truppenstrukturen trifft. Das heisst: Beim Thema Personalgewinnung und Zielstärke muss man sich ehrlich machen. Und die Gliederung auf der Ebene der Teilstreitkräfte ist der neuen, alten Hauptaufgabe anzupassen: Das ist die Fähigkeit zum Gefecht der verbundenen Kräfte, joint und combined, in der kollektiven Verteidigung. Denn deutsche konventionelle Stärke in der Mitte Europas ist die Basis glaubwürdiger Abschreckung gegenüber Moskaus Expansionsbestrebungen. Das erwarten die Bündnispartner von uns. Und nur daran wird der Erfolg des Bundeswehr-Projekts „Zeitenwende“ zu messen sein.
Dieser Artikel erschien ebenfalls als Kolumne in der Europäische Sicherheit & Technik am 30. Mai 2023.
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