Sicherheitsvorsorge in der Zeitenwende als primäres Ziel
Seit Scharnhorst spielt der Wehrpflichtgedanke eine wesentliche Rolle in der Diskussion um Militär und Gesellschaft Deutschlands. So auch von Anfang an in der Bundeswehr, und dies zu Recht. Immer ging es primär um zwei Aspekte: Erstens militärisch die Verteidigungsvorsorge innerhalb des Bündnisses und zweitens staatspolitisch eine enge Verzahnung der Bundeswehr mit der Gesellschaft zu gewährleisten. In der Rückschau kann man nicht anders, als über rund 40 Jahre hinweg den Erfolg dieses Modells zu konstatieren.
Freilich deutete sich nach dem Ende des Kalten Krieges und damit einer so erfreulich wie radikal geänderten sicherheitspolitischen Lage mehr und mehr die Notwendigkeit an, dieses Erfolgsmodell zu überprüfen. Schon der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker – immer ein entschiedener Verfechter des Wehrpflichtgedankens – regte 1993 in seiner Rede vor den Kommandeuren der Bundeswehr an, die Vorzüge einer allgemeinen Dienstpflicht im Sinne einer erweiterten Sicherheitspolitik zu prüfen. Und sein Nachfolger Roman Herzog mahnte aus einer sehr ähnlichen Grundeinstellung heraus und fast hellseherisch an, die Wehrpflicht stets mit der Landes- und Bündnisverteidigung – und nicht mit einer Beteiligung an internationalen Missionen – zu rechtfertigen.
Dieser schon damals eingeleitete Denkprozess führte mehr als eine Dekade später schließlich zu dem Ergebnis, die Wehrpflicht ab dem Frühjahr 2011 auszusetzen. Probleme mit Blick auf die Wehrgerechtigkeit (nur noch rund ein Drittel der gemusterten männlichen Geburtenjahrgänge wurden tatsächlich in die Bundeswehr eingezogen), die auch deshalb immer kürzere Wehrdienstdauer (die seit den 1960er Jahren von 18 auf erst 15, dann von 12 über marginale 9 auf schließlich gar 6 Monate in 2011 reduziert wurde und damit keinen militärischen Ertrag mehr bringen konnte), das finanziell zunehmend angespannte Verteidigungsbudget und die strikte Fixierung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze wie in Afghanistan (an denen Grundwehrdienstleistende nicht teilnahmen) wurden schlichtweg politisch zu übermächtig für den Fortbestand dieser Wehrform. Von daher gab es in der deutschen Politik nahezu über alle Parteien hinweg keinen nennenswerten Widerstand gegen diese Entscheidung, deren Folgen für die Sicherheit Deutschlands ebenso wie für Selbstverständnis und gesellschaftliche Stellung der Bundeswehr allerdings kaum vorhersehbar waren. Aus einer deutschen Wehrpflichtarmee wurde eine Freiwilligenarmee, versehen mit dem Etikett Einsatzarmee.
Und nun, spätestens nach dem Überfall Russlands auf seinen Nachbarn Ukraine, steht die deutsche Sicherheitspolitik vor der bitteren Herausforderung einer „Zeitenwende“.
Krieg ist wieder Realität mitten in Europa, quasi fast vor unserer Haustür. Die bequeme und teils auch billige Phase der Illusionen, die in der Euphorie der 1990er Jahre begann („von Freunden umzingelt“), nach 9/11 den Blick auf Regionen eher fernab Europas richtete und sich auch durch Putins Aggressionen wie 2008 (Georgien) und vor allem 2014 (widerrechtliche Annexion der Krim) nicht wirklich erschüttern ließ, ist nun endgültig vorbei. Wenn man „Zeitenwende“ ernst nimmt, muss nunmehr alles auf den Prüfstand, nicht zuletzt auch die Frage der Wehrpflicht. Denn jetzt steht wieder das unter hohem Risiko, was traditionell als deren Kernbegründung gilt: Die konkrete militärische Verteidigungsfähigkeit unseres Landes.
Freilich wird es an diesem Punkt schwierig. Denn eine Zeitenwende schafft man nicht von heute auf morgen. Vielmehr erfordert der Versuch, die verlorengegangene Sicherheitsvorsorge möglichst rasch in ihrem Kern wiederherzustellen, eine klare Prioritätenfolge. Man muss also notgedrungen zwischen kurz-, mittel- und längerfristigen Ansätzen unterscheiden. Wer alle Mängel gleichzeitig beseitigen möchte, setzt sich der Gefahr des Scheiterns an ganzer Front aus. Damit stellt sich durchaus die berechtigte Frage, ob eine erneute Aktivierung der Wehrpflicht die aktuell so missliche Lage wirklich stärkt, oder ob es nicht ratsamer ist, eher mittelfristig ein dann umso besser durchdachtes Gesamtkonzept anzugehen. Denn es gibt einige Stolpersteine, die aus dem Weg geräumt werden müssen, bevor man sich auf eine zwar populär klingende, aber in Wahrheit nachteilige Weise dem Thema konkret nähert.
Vor allem drei Aspekte gilt es sorgsam zu prüfen:
Erstens die notwendige Übergangszeit. Die Bundeswehr kann derzeit den aktuellen Anforderungen nicht hinreichend entsprechen – zwar unverschuldet, aber darauf kommt es jetzt nicht an. Zugleich ist die verteidigungspolitische Lage brisant wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Truppe hat daher weit Wichtigeres zu tun, als sich der Aufnahme, Ausbildung und Ausstattung Tausender von Wehrpflichtigen zu widmen. Sie darf jetzt nicht mit neuen Aufgaben belastet werden, sondern muss sich auf das konzentrieren, was schlichtweg unabdingbar ist: Ihren Bündnisverpflichtungen genügen. Das ist schwer genug. Denn man sollte sich im Klaren sein: Ein Wiederaufleben und sinnvolles Eingliedern der Allgemeinen Wehrpflicht erfordert teils völlig neue Strukturen, und das wiederum sehr viel Zeit und militärische Ressourcen – die wir jetzt schlicht nicht haben.
Zweitens der Kostenfaktor. Wehrpflichtige müssen erfasst, gemustert, einberufen, entlassen werden. Sie benötigen Unterkunft, Bekleidung, Ausrüstung und Investitionen in ihre Ausbildung. Fertig ausgebildet dienen sie der Armee nur relativ kurz – dann beginnt eine kostenintensive Schleife von vorn. All das bindet eine Menge Mittel und Geld, die in der „Zeitenwende“ in vielen anderen Bereichen mit nicht minder großer Überzeugungskraft angemahnt werden, etwa in der nötigen Energiewende. Auch mit spitzer Feder und viel Erfindungsreichtum dürfte klar sein: Das überfordert die derzeit extrem angespannte Finanzkraft des Staates, insbesondere nach der Pandemie. Ein „Wumms“ oder „Doppel-Wumms“ lässt sich nicht beliebig wiederholen.
Drittens (und vor allem) die Frage der Geschlechter. Bisher war die Wehrpflicht nur auf die männliche Bevölkerung bezogen. Das machte nicht zuletzt auch deshalb Sinn, weil den Frauen die Soldatenlaufbahn grundsätzlich verschlossen war und erst 2001 voll geöffnet wurde. Heute sieht die gesellschaftliche Akzeptanz einer Gleichberechtigung zudem zurecht vieles anders als früher. Eine leidenschaftliche Diskussion mit offenem Ausgang um die Frage, ob neben den Männern auch Frauen wehrpflichtig sein müssten, dürfte daher unumgänglich sein. Und damit treten sofort auch wieder praktische Probleme einer sinnvoll langen Wehrdienstdauer und einer akzeptablen Wehrgerechtigkeit in den Vordergrund. Denn klar dürfte sein: Wehrpflicht ist mehr als nur ein gesellschaftlicher Grundsatz, sondern muss im Ergebnis auch einen hohen sachlichen Ertrag bringen.
Dennoch sollte man sich von solchen Einwänden nicht völlig einschüchtern lassen. Im Grundsatz liegen ja die verteidigungspolitischen und auch – wenngleich das nicht der entscheidende Faktor sein darf – gesellschaftspolitischen Vorteile der Wehrpflicht auf der Hand. Aber: Dazu bedarf eines Gesamtkonzepts, das wohl weit über rein militärische Fragen hinausreichen muss. Der inzwischen so oft bemühte Ansatz einer „erweiterten Sicherheitspolitik“ eröffnet hier durchaus Chancen. Warum also nicht an eine allgemeine Dienstpflicht denken, die alle sicherheitsrelevanten Bereiche (von der Bundeswehr über den Katastrophenschutz bis hin zum Entwicklungsdienst) sowie den herkömmlichen Zivildienst umfasst und es dabei den jungen Staatsbürgern und -bürgerinnen weitgehend selbst überlässt, wo genau sie sich einbringen können und wollen? Auch das kostet Geld und Zeit, keine Frage. Aber es wäre eine rundum lohnende Investition in die Zukunft und Stabilität unseres Landes. Damit kämen wir, auf die heutige Zeit bezogen und in einem umfassenderen Sinn angewandt, dem Scharnhorst’schen Gedanken wieder nahe: Jeder Bürger eines Staates als geborener Verteidiger desselben.
Sehr geehrter Herr Generalleutnant a.D. – haben Sie Dank für das Teilen Ihrer Gedanken u Ansichten: Sie sprechen mir aus der Seele. Als aktiver Berufssoldat, ehemaligem Kompaniechef einer Grundausbildungseinheit in Rheinland-Pfalz und noch ehemaligerem Mitglied einer Freiwilligen Feuerwehr kann ich Ihrem Ansinnen bezüglich einer allgemeinen Dienstpflicht nur beipflichten. Dabei bedürfte es meiner Ansicht nach eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes (und damit meine ich Blaulichtorganisationen ebenso wie zivile Hilfsdienste aber auch die Bundeswehr) ebenso wie der kreativen Verknüpfung von ‚Leistungen‘, die den jungen Männern und Frauen nach dem Ableisten des Dienstes an der Gemeinschaft entweder den Einstieg in das Berufsleben oder ein Studium erleichtern. Ein mögliches (noch abzustimmendes) Konzept könnte aus meiner Bewertung heraus eine zweijährige Dienstpflicht umfassen, bei der nach 1,5 Jahren die Wahl steht zum weiteren Dienen, dem Einstieg in eine (oder Fortführen einer) Ausbildung – oder eben ein halbes Jahr „frei“ – unter Fortzahlung des Soldes. Damit käme man dem Wunsch der jungen Generation nach Individualisierung (Zeit und die nötigen Mittel für zum Beispiel eine mehrmonatige Weltreise) entgegen, könnte andererseits aber auch diejenigen, die sich diese ‚Auszeit‘ nicht gönnen möchten, mit zusätzlichen Studienpunkten oder einem früheren Einstieg in die Berufsleben/höherer Entlohnung etc ‚belohnen‘.
Ich bin ganz bei Ihnen und denke, eine Dienstpflicht würde uns als Gesellschaft enorm guttun.