Eine Vision noch, aber eine, deren Zeit gekommen ist.
Zwei grosse strategische Hauptquartiere gibt es in Europa. Das eine sitzt im belgischen Mons und heisst SHAPE: Supreme Headquarters Allied Powers Europe, das andere sitzt in Stuttgart und heisst USEUCOM: United States European Command. Befehlshaber beider Kommandobehörden ist der amerikanische Viersterne-General Christopher G. Cavoli.
Das US-Hauptquartier würde im Falle eines Dritten Weltkrieges dann an die Stelle des Nato-Hauptquartiers treten, wenn sich die 30 Bündnis-Nationen nicht einstimmig darauf einigen könnten, den Bündnisfall festzustellen. Es kann zusätzliches Personal einer Coalition of the Willing aufnehmen. Das steht nirgendwo geschrieben, aber sicher ist sicher.
Ein gemeinsames europäisches Hauptquartier für europäisches Nato- oder EU-Militär existiert bisher nicht.
Nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Prager Europa-Rede die Einrichtung eines „echten“ europäischen Hauptquartiers gefordert.
Damit nimmt er eine Diskussion wieder auf, die schon gelegentlich gross angefangen und dann mit routinierten Brüsseler Kompromisspapieren auf kleinstes Format geschrumpft wurde. Seit 2001 gibt es einen beratenden „EU-Militärstab“, der seit 2017 auch über eine operative Abteilung („Military Planning and Conduct Capability“) verfügt – in der allerdings kaum mehr als zwei Dutzend Offiziere Dienst tun.
Eine Initiative, mit der 2003 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, Frankreichs Präsident Jacques Chirac und die Premierminister Belgiens, Guy Verhofstadt, und Luxemburgs, Jean-Claude Juncker, ein richtiges europäisches Hauptquartier auf die Tagesordnung brachten, scheiterte. Unter anderem am Widerstand Grossbritanniens.
Aber auch die Amerikaner waren nicht überzeugt von einer angeblichen „Doppelung“ vorhandener militärischer Führungsstrukturen. Und die neuen mittel- und osteuropäischen EU- und Nato-Mitglieder wollten alles vermeiden, was so aussehen könnte, als sei ihre gerade gewonnene Freiheit auch ohne die USA zu sichern.
Dabei hatten die vier Regierungschefs aus dem „alten“ Europa damals eher die Ohnmacht der europäischen Krisenreaktion in den Balkankriegen der 90er Jahre vor Augen (die erst durch massiven Einsatz amerikanischen Militärs und amerikanischer Diplomatie die nötige Durchschlagskraft gewann) und vielleicht auch die unilaterale Vorgehensweise der Bush-Administration im Irak-Krieg, ohne vorherige Konsultationen in der Nato. Und Russland schien ja noch nicht wieder zu einer Bedrohung der freien Welt geworden zu sein.
Wenn allerdings heute Olaf Scholz wieder für ein „echtes“ europäisches Hauptquartier wirbt, dann dürfte es nicht mehr in erster Linie um die Effektivität multinationaler Krisenreaktion gehen (Afghanistan lädt nicht zur Nachahmung ein), sondern um die Stärkung des europäischen Pfeilers im atlantischen Verteidigungsbündnis.
Denn eine extrem ineffektive „Doppelung“ von militärischen Strukturen gibt es ja durchaus, dreifach und vielfach, jeden Tag, in den 21, demnächst (mit Schweden und Finnland) 23 EU-Staaten, die gleichzeitig Mitglied der Nato sind. Die militärische Kleinstaaterei kostet enorm viel Personal und Geld. Sie zu überwinden, braucht fachliche Führung. Deshalb ein europäisches Hauptquartier!
Es muss und sollte keine EU-Behörde sein, sondern etwa wie die Europäische Zentralbank in Frankfurt eine von den EU-Institutionen unabhängige militärische Zentrale für diejenigen Nationen, die dabei sein wollen. Das HQ stünde gegebenenfalls Nato und EU zur Verfügung.
Die Lösung der HQ-Frage wäre der nächste logische Schritt auf dem Weg zur europäischen Armee (die als Fernziel im SPD-Grubdsatzprogramm, dem der Kanzler sich verpflichtet fühlen dürfte, steht).
Einiges an Integration läuft bereits, so die Fusion des deutschen mit dem niederländischen Heer oder die Steuerung des gesamten militärischen Lufttransports von sieben Nationen in einem Europäischen Lufttransportkommando (in Eindhoven).
Die Organisationssoziologie lehrt: „Institutions matter“. Von einem „echten“, grossen europäischen Militärhauptquartier wird eine normative Kraft des Faktischen ausgehen, die wie früher bei den Vorläufern des Euro, eine Dynamik in Gang setzt, an deren Ende Bündnisstreitkräfte stehen, die in Zukunft stärker sein werden als die Summe der kaputtgesparten, von der Substanz zehrenden nationalen Armeen heute. Nicht nur die Bundeswehr ist ein Sanierungsfall.
Der Befehlshaber des europäischen HQ könnte zugleich Stellvertreter des (amerikanischen) Nato-Oberbefehlshabers sein.
Ein guter Standort für das Hauptquartier könnte aus vielen historischen Gründen Straßburg sein. Hier gibt es im übrigen schon einen überflüssig gewordenen Korpsstab („Eurokorps“) mit einem grossen Grundstock an bereits europäisch besetzten Dienstposten und den notwendigen Unterstützungsverbänden. Vielleicht könnte bei dieser Gelegenheit das Europäische Parlament seinen vielkritisierten Wanderzirkus mit dem Pendeln zwischen Brüssel und Straßburg einstellen und stattdessen Straßburg Sitz und Symbol der europäischen Einigung auf militärischem Gebiet werden.
Eine Vision noch, aber eine, deren Zeit gekommen ist.
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