Nordische Gedankenspiele

von | 17.01.2022 | International | 8 Kommentare

Neutralität oder Nato?

Welch ein Wandel hat sich in Europa seit den 1990er Jahren eingestellt: Der Warschauer Pakt aufgelöst, die Sowjetunion zerfallen, Russland nahezu ohne wirklich enge Partner. Und umgekehrt: Die Nato deutlich erweitert, und das meist ausgerechnet aus dem bislang dem „Osten“ zugerechneten Lager. In mehreren Runden wurden unter anderem Tschechien, Polen und Ungarn (1999), die baltischen Staaten, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien (2004), Kroatien und Albanien (2008), Montenegro ((2017) und zuletzt Nord-Mazedonien (2020) Mitglieder der Allianz. Von den diversen Partnerschaften mit Serbien, mit Georgien, mit der Ukraine und anderen ganz zu schweigen.

Das ist insgesamt eine Entwicklung auf leisen Pfoten, die bereits mit flüchtigem Blick auf die Karte einem Erdrutsch gleichkommt. Wer wundert sich da, wenn Russland mit seinem Präsidenten Putin spätestens seit 20 Jahren alles andere als erfreut ist? Die Tatsache, dass alle die genannten Staaten aus eigener, freier Entscheidung sich unter den Schutzschirm der Nato begeben haben, ändert da wenig daran. Im Gegenteil, sie macht die Demütigung nur noch schmerzhafter. Das ist der Hintergrund, wenn Putin nun ultimativ und mit unverhohlener Drohgebärde nicht nur ein Ende, sondern sogar eine völlige Umkehrung dieses  Prozesses verlangt.

Er begründet das mit russischen Sicherheitsinteressen. Richtig ist daran, dass einzelne Erweiterungsschritte der Nato in der Tat alte Krisen verstärken und neue auslösen können – und zwar indem Russland sie zum Anlass für robuste Reaktionen nimmt, aus welchen Gründen auch immer. Oder anders ausgedrückt: Weil Putin freie Entscheidungen von souveränen Staaten nicht so ohne weiteres akzeptieren möchte, treibt er den Preis für solche Entwicklungen nach oben. Aber steht dahinter wirklich eine Sorge um reale Sicherheitsinteressen des russischen Staates, wie behauptet? Warum soll eine Art Pufferzone vitale Gefahren abwehren, und welche Gefahren sollen das eigentlich sein? Ist Russland in seiner Souveränität wirklich selbst bedroht? Der neutrale Beobachter stellt hier ernüchtert fest: Die Perzeptionen aller Seiten decken sich offenbar in keiner Weise.

Beim Versuch einer tieferen Antwort stößt man vielleicht auch auf folgende Vermutung: Das Land – oder besser: die herrschende Elite des Landes – ist sich seiner inneren Stabilität nicht so ganz sicher. Wenn an dieser Analyse etwas dran ist, dann lässt sich eigentlich nur eine einzige profane Empfehlung formulieren: Die eigene Außen- wie auch Innenpolitik so gestalten, dass sie für Partner endlich attraktiv wird – und nebenbei auch für die eigene Bevölkerung. Erst mit einer Revitalisierung des Vertrauens lässt sich der oben beschriebene Trend aufhalten. Das wäre die mit Abstand beste Sicherheitsgarantie für alle, insbesondere für Russland selbst. Erst dann sind im übrigen auch die Grundlagen für eine tragfähige europäische Friedensordnung gegeben. Die erkennbare Flucht der östlichen europäischen Länder unter den Schirm der Nato ist ja schließlich kein erzwungener, sondern ein dringlich verfolgter Wunsch souveräner Staaten. Das sollte zu denken geben.

Nun beziehen sich alle diese Erkenntnisse nicht nur auf den Kreis des früheren Ostblocks, sondern auch auf Staaten, die sich traditionell bisher neutral verhalten haben. Immer mehr setzt sich dort die These durch, der Begriff „Neutralität“ und mit ihm das Lagerdenken könnten seit Ende des Ost-West-Konflikts ausgedient haben. Zugleich verbreitet sich die Erkenntnis, dass sich Europa auf Dauer nur durch einen engen inneren Zusammenhalt auf allen politischen und militärischen Feldern angemessen positionieren kann, und dass es nach wie vor auf die enge transatlantische Partnerschaft vital angewiesen ist.

In Schweden und Finnland wird diese Diskussion derzeit wieder überraschend intensiv geführt – mit einem Ausgang, der noch nie so offen war wie bisher. Dort haben die Drohgebärden Russlands zu einem Überdenken der bisherigen außenpolitischen Positionierung geführt. Denn die Forderungen Putins, die er im Falle einer Ablehnung unverhohlen auch militärisch zu untermauern droht, berühren nun tatsächlich reale Sicherheitsinteressen dieser beiden Länder. Die derzeitige Lageentwicklung wird, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, auch dort als „sicherheitspolitischer Sprengstoff“ wahrgenommen. In beiden Ländern betonen alle Verantwortlichen jedenfalls strikt, dass es natürlich ihrem Handlungsspielraum und ihrer Entscheidungsfreiheit entspricht, nicht nur eine Nato-Mitgliedschaft beantragen zu dürfen, sondern auch im Vorfeld mit der Nato in Angelegenheiten gemeinsamer Sicherheitsvorkehrungen zu kooperieren. Eine a-priori-Knebelung mittels eines Veto-Rechts Dritter käme also nicht in Betracht. Sie wäre in keinem Fall vereinbar mit den Grundsätzen einer völkerrechtlich verbrieften Souveränität.

Ein Blick auf die Karte erhellt die Sorgen. Schweden fürchtet um seine Hoheitsgewässer und insbesondere die Insel Gotland. Finnland besitzt neben einschlägigen historischen Erfahrungen eine Landgrenze mit Russland, die mehr als 1.300 km beträgt und nur schwer zu überwachen ist. Beiden Ländern kommt damit eine enorme geostrategische Bedeutung zu, vor allem mit Blick auf die Operationsfreiheit von Flotten aller Seiten in der Ostsee – welche in einem neuerlichen Konflikt ihren nach 1990 erhofften Status als „Meer des Friedens“ wohl endgültig verlieren würde. Beide Länder pflegen überdies traditionell engste Beziehungen zu ihren baltischen Nachbarn, die sich als ehemalige Sowjetstaaten einer besonders großen Gefahr restaurativer russischer Ambitionen ausgesetzt sehen. Beide – Finnland wie Schweden – sind damit unmittelbar betroffen, falls sich die militärische Lage in Europa weiter zuspitzen sollte. Neutralität und Bündnisfreiheit sind in einem solchen Fall eher keine tragfähigen Sicherheitsgarantien, so viel scheint gewiss.

Es erstaunt schon, wenn eine sicherheitspolitische Debatte, die vielerorts seit dem Ende des Ost-West-Konflikts als unnötig und substanzlos erachtet wurde, nun wieder eine solche Fahrt aufnimmt – und das in Ländern wie Finnland und Schweden, die nicht gerade als außenpolitische Lautsprecher oder gar Hasardeure bekannt sind. Bei der Suche nach Ursachen kommt man an dem Abschreckungsbeispiel Ukraine und Krim nicht vorbei. Seit 2014 ertönt aus dieser Richtung ein unüberhörbarer Weckruf, der in den letzten Monaten wieder besonders schrill klingt und jedes Vertrauen untergräbt. Was muss also geschehen, wer muss seine Politik wie überdenken, um eine Rückkehr zu alten Szenarien, die wir in Europa doch eigentlich längst überwunden zu haben glaubten, zu verhindern?

Über Kersten Lahl

Kersten Lahl (* 6. Juli 1948 in Bielatal) ist Generalleutnant a.D. des Heeres bei der Bundeswehr und war nach seiner Pensionierung von 2008 bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war Kersten Lahl von 1991 bis 1994 Adjutant und militärpolitischer Berater des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und publiziert zu verschiedenen sicherheitspolitischen Themen.

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8 Kommentare

  1. Kersten Lahl

    Neueste Entwicklung in Finnland (Mitte April): In den nächsten Wochen ist eine Entscheidung des Landes zu einem Antrag auf Nato-Mitgliedschaft zu erwarten, wie die finnische Regierungschefin Sanna Marin sagt. Dann könnte es mit einer formalen Aufnahme recht schnell gehen, vielleicht in Jahresfrist. Die allermeisten Kriterien sind ja fraglos erfüllt. Konkret bedeutet das eine neue Landgrenze von 1.300 km zwischen Nato-Staaten und Russland.

    Das ist gewiss keine Entwicklung nach dem Geschmack Putins. Aber selbst verursacht.

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  2. Kersten Lahl

    Nur zur allgemeinen Info: Hier in diesem Blog dürfen alle Interessierten kommentieren. Aber ein paar Regeln müssen schon eingehalten werden, sonst funktioniert das nicht. Dazu gehört u.a., dass die Aussagen auf das jeweilige Thema bezogen und persönliche Angriffe unterlassen werden. Wer unbedingt seine weltanschaulichen Auffassungen zu beliebigen Bereichen präsentieren oder generell seinen Frust abladen möchte, findet dafür bestimmt andere geeignete Foren im Netz. Hier bitte nicht.

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  3. Gluth Heinz

    Wie lassen sich da wohl die Auslandseinsätze erklären ? Waren das alle Bündnispartner oder haben die Menschen in Afghanistan zum Beispiel uns um Hilfe gebeten . 90 % des Weltaufkommen an Opium kam in den letzten 20 Jahren aus Afghanistan ! Und jetzt verbieten und bekämpfen die Taliban die Opiumproduktion . Da wird die westliche Welt aber sich was einfallen müssen . Die Menschenrechte verbieten auch die Waffenlieferung in Krisengebieten . Herr Horsch und Herr Lahl waren sind wir da so ruhig und sagen da nicht gegen die USA ??? Sie pumpen Europa so richtig voll ! Wer das wohl gerne möchte .

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  4. Rudolf Horsch

    Die NATO und keines ihrer Mitgliedsländer hegt Angriffs- oder Unterwerfungsgedanken gegenüber anderen Staaten. Sie verteidigt im Falle eines Angriffs nur ihre Integrität und Freiheit oder engagiert sich im Auftrag der Vereinten Nationen zur Beendigung in Krisen und Konflikten.
    Die NATO ist zwar kein Staat, aber welche Merkmale und Eigenschaften nach dem Völkerrecht müssten hinzutreten, um sie als neutrale Institution anzusprechen?

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  5. Gluth Heinz

    Andersdenkende müssen gehen Kay-Achim Schönbach

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  6. Gluth Heinz

    Wir müssen Europa als Europa sehen und nicht als Westeuropa . Wir sollten dort weitermachen wo wir 1991 aufgehört haben . Nicht nur Deutschland ( Kohl und Genscher ) sondern auch der Amerikanische Außenminister hat 1993 -Auftritt im Moskau vor der Russischen Staatsregierung )-haben die Zusicherung den Russen gegeben ,das sich die Nato NICHT in Richtung osten erweitert. Waren wir nicht alle stolz (natürlich einige Militärs nicht )das wir in Europa die Raketen Ost und West abgezogen haben in den 1988 Jahren . Der Jugoslawien Krieg hat tausende von Tote gekostet . In Afghanistan Krieg sind hunderttausende Zivile Opfer zu beklagen . Deutschland liefert Waffen in all den Krisengebieten direkt oder indirekt . Wir Rüsten die Ukraine mit den besten Waffen aus ,Deutschland liefert über England sogar die Türkei liefert Drohnen .Anstatt die beiden jungen Volksrepubliken Donezk und Luhansk anzuerkennen ,steht ist ein offener Bruderkrieg in der Ukraine zu erwarten . Natürlich Herr Lahn sind wir auf diese Fakten richtig stolz . So wie sie sicherlich Ihren Einsatz in Afghanistan nie bereuen werden . Sicher werde ich in diesem Block meine fakten nicht mehr darlegen dürfen !
    Daher heute Anonym

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  7. Kersten Lahl

    Versuchen wir das mal aus einer russischen Perspektive zu sehen: Nato-Mitgliedschaften dienen dem Eigenschutz, das dürfte hoffentlich unumstritten sein. Sie stellen für keinen der Partner eine Verpflichtung dar, an irgendwelchen militärischen Offensivoperationen außerhalb der Aufgabe Bündnisverteidigung teilzunehmen. Im Gegenteil: Je mehr Mitglieder, umso schwieriger wird jede Nato-Entscheidung aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips. Das müsste andere doch eigentlich eher beruhigen, statt eine zunehmende Bedrohung der eigenen Sicherheit zu befürchten.

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  8. Reiner Schwalb

    Die bisherige militärische Kooperation mit SWE und FIN sollte vertieft werden, ohne Übungskooperation mit Landstreitkräften in diesen Staaten anzustreben. Dies würde ein klares Signal an RUS senden, dass sich NATO auch der Sicherheit seiner Nichtvertragspartner verbunden fühlt ohne RUS Argumente für eine angebliche zunehmende Bedrohung für die eigene Sicherheit zu geben.

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Über Kersten Lahl

Kersten Lahl (* 6. Juli 1948 in Bielatal) ist Generalleutnant a.D. des Heeres bei der Bundeswehr und war nach seiner Pensionierung von 2008 bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war Kersten Lahl von 1991 bis 1994 Adjutant und militärpolitischer Berater des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und publiziert zu verschiedenen sicherheitspolitischen Themen.

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