Putins Ukrainekrieg als globale Warnkatastrophe

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist gleichsam ein Weckruf und eine Warnkatastrophe für die freiheitlichen Demokratien unserer Welt. Denn politisch erfordern die neuen Zeiten nun den Mut, große Entscheidungen zu treffen.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk schrieb einmal zu der Frage, wie viel Katastrophe nötig ist, um gewarnt zu sein und umzudenken: „Nur der real geschehende Weltuntergang wäre eine überzeugende Warnung vor dem Weltuntergang.“ Oder anders ausgedrückt „wäre die einzige Katastrophe, die allen einleuchtet, die Katastrophe, die keiner überlebt.“

Das mag heute für die Klimakrise so gelten. Aber auch in der Geopolitik erleben wir im Augenblick mit Putins Krieg gegen die Ukraine eine Warnkatastrophe, die dringend unser Denken und Handeln neu sortieren sollte. Wir dürfen unsere Ordnung der Freiheit nicht länger als selbstverständlich und gegeben hinnehmen. Wir müssen sie verteidigen – im Innern und nach aussen.

Demokratie kann verloren gehen. Durch Radikalisierung, Populismus, Desinteresse. „How Democracies die“, heisst ein Sachbuch-Bestseller aus dem Amerika Donald Trumps. Einer der Autoren, Daniel Zieblatt, forscht übrigens zur Zeit in Deutschland am Wissenschaftszentrum Berlin.

Demokratie kann von aussen zerschlagen werden. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat das zur Genüge demonstriert. Ob Nazi-Diktatur oder Stalinismus: Totalitäre Regime sind die Todfeinde der Demokratie. Deshalb sollten wir die Gefahr, die von blutigen Diktatoren ausgeht, auch heute ernst nehmen: Wer zu Hause die politischen Freiheiten verbietet, wer Demokraten überwacht, verfolgt, einsperrt und ermordet, der ist sehr wahrscheinlich auch eine Bedrohung für seine Nachbarländer.

Jede und jeder kann sehen: Unsere Demokratie ist heute so stark angefochten wie seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr.

Rußlands Krieg in der Ukraine bringt alle Dämonen der Vergangenheit wieder ans Licht.

Deshalb müssen wir in den freiheitlichen Demokratien der Welt jetzt mehr Wehrhaftigkeit wagen. Warum „wagen“? Weil neue Wehrhaftigkeit einen Bruch mit der so verheissungsvollen „Friedensdividende“-Zeit bedeutet. Und weil wir es wirklich, wie Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, mit einer „Zeitenwende“ zu tun haben. Nicht jeder erkennt das an. Die Fähigkeit zur Verdrängung überrascht immer wieder. Wir müssen erklären, werben und diskutieren. Jetzt geht es wirklich ein weiteres Mal um die Verteidigung der Freiheit. In der Ukraine. In Europa. Weltweit.

Dafür braucht Deutschland, dafür braucht unser Nato-Bündnis eine starke Bundeswehr. Die stärkste konventionelle Streitmacht in der Mitte Europas, so die Ankündigung des Bundeskanzlers. Diese erneuerte Bundeswehr muss voll ausgestattet sein. Schluss mit hohlen Strukturen!

In der FAZ las ich neulich in einem Nebensatz, es gehe heute um die „Wiederbewaffnung“ Deutschlands. Diese Parallele zur vollständig abgerüsteten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mag verstörend wirken, aber die Abrüstung nach dem Ende des Kalten Krieges war hierzulande schon auch ziemlich radikal, vor allem noch einmal nach der letzten Bundeswehr-Schrumpfreform von 2011. Zur Bedrohungswahrnehmung Deutschlands in diesen Jahren der Finanzkrise überschrieb die FAZ damals einen Leitartikel mit den Worten „It´s banks, not tanks“.

Wenn es mit der Wiederbewaffnung nun also ernsthaft losgeht, dann muss ein Schwerpunkt eindeutig auf jenen Kräftekategorien liegen, die nicht zügig aus Übersee verstärkt werden können: Das heisst auf präsenten, schweren und schnell nach vorne verlegbaren Landstreitkräften. Und auf dem lange total vernachlässigten Raumschutz für Deutschland, unter anderem durch Luftabwehr aller Art, einschliesslich Raketenabwehr. Aber auch Reserve, Heimatschutz, nukleare Teilhabe.

Dafür sind die nominal 100 Milliarden Euro des Sondervermögens eine sehr gute Anschubfinanzierung, ein kräftiger Befreiungsschlag. Aber 100 Milliarden plus möglichst bald zwei Prozent vom BIP – das wäre besser! Ein dauerhaft bei 50 Milliarden Euro eingefrorener regulärer Verteidigungshaushalt wäre dagegen die Garantie für das Scheitern des Projekts einer schnellen Vollausstattung.

In jeden Fall braucht das Beschaffungswesen endlich mehr Luft zum Atmen. Schluss damit, dass die Hälfte der Zeit und die Hälfte des Geldes immer wieder in die letzten 2 Prozent vermeintlicher Perfektion investiert werden! Allerdings: Mehr Geld, mehr Material, auch mehr Personal – das alles kann nur Wirksamkeit entfalten, wenn die längst überfällige Strukturreform endlich kommt. Die Soldatinnen und Soldaten warten darauf.

Keine Angst vor Reformen! Weg vom Afghanistan-optimierten Einsatz-Szenario mit vergleichsweise kleinen, massgeschneiderten Kontingenten, hin zum existenziellen Hauptauftrag: kollektive Verteidigung mit der ganzen Bundeswehr! Das bedeutet: mehr Truppe, weniger Stäbe, organische Verbände, Schluss mit der Verantwortungs-Diffusion!

Gefahr ist im Verzug. Das Katastrophische warnt. Es ist ernst. Politisch erfordern die neuen Zeiten jetzt den Mut, das Wagnis einzugehen, Entscheidungen zu treffen, auch grosse. Denn wer nicht entscheidet oder wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, hat einmal ein russischer Patriot, ein grosser Staatsmann, gesagt. Deshalb, sorgen wir dafür, dass wir in Deutschland auf der Höhe der Zeit sind!

Dieser Beitrag erschien ebenfalls als Kolumne der Europäische Sicherheit & Technik am 1. Dezember 2022 unter Putins Ukrainekrieg als globale Warnkatastrophe (esut.de)

Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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