Russland und die Ohnmacht der Vereinten Nationen

von | 17.10.2022 | International | 0 Kommentare

Grundlegende Reformen in den Gremien der Vereinten Nationen sind längst überfällig. Besonders im VN-Sicherheitsrat macht sich dies in der aktuellen Zeit bemerkbar und geht vor allem zu Lasten eines Staates: der Ukraine.

Nun hat sich die Vollversammlung der Vereinten Nationen erneut in einer Dringlichkeitssitzung mit dem unsäglichen russischen Krieg gegenüber seinem Nachbarn Ukraine befasst: Zunächst am 25. Februar, also unmittelbar nach dem Angriffsbeginn russischer Truppen auf ukrainisches Territorium, und jetzt im Oktober nach den sog. „Referenden“ und der darauffolgenden Annexion von vier ukrainischen Regionen. Beide Abstimmungsergebnisse lassen so gut wie keinen Interpretationsspielraum: Jeweils rund drei Viertel aller 193 Staaten verurteilten das russische Vorgehen. Ein weiteres knappes Viertel enthielt sich der Stimme. Nur fünf (Nordkorea, Belarus, Syrien und Nicaragua, neben Russland) votierten dagegen – das sind weniger als drei Prozent. Oder anders gesagt: Die Zahl der Staaten, die den Kreml hart verurteilen, ist rund dreißigmal so hoch wie die Zahl derjenigen, die ihn aus unterschiedlichen Gründen aktiv schützen zu müssen glauben. In den Augen der Völkergemeinschaft ist Russland damit als schändlicher Rechtsbrecher in für die Charta der Vereinten Nationen fundamentalen Fragen an den Pranger gestellt. Völlig zu Recht.

Das Problem ist freilich die Unverbindlichkeit dieses Votums. Das Hauptziel der Vereinten Nationen richtet sich zwar auf die Wahrung des Weltfriedens und des internationalen Rechts. Allerdings kann die Vollversammlung dabei selbst nicht handeln, sondern allenfalls Empfehlungen aussprechen. Die Verantwortlichkeit für verbindliche Resolutionen und etwa friedenserzwingende Maßnahmen liegt vielmehr beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Insbesondere besitzt nur er das Monopol über Entscheidungen zur Feststellung eines Friedensbruches und zur etwaigen Gewaltanwendung, um internationales Recht durchzusetzen. Und hier wiederum ergibt sich ein weiteres Problem: Nämlich das der Zusammensetzung dieses Gremiums und vor allem des Veto-Rechts der 5 ständigen Mitglieder, unter anderem eben auch Russland. Im Ergebnis bedeutet diese Konstruktion, die nachvollziehbaren historischen und realpolitischen Überlegungen folgt, aktuell nichts anderes als die schmerzhafte Erkenntnis: Die Vereinten Nationen sind in einer solchen politischen Lage, in der die Welt an den Rand einer globalen Katastrophe zu rücken droht, im Kern handlungsunfähig.

Vor wenigen Tagen hat der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des Militärausschusses der Nato, Klaus Naumann, diesen Aspekt in seiner herausragenden Festrede zum 70. Jahrestag der Gesellschaft für Sicherheitspolitik kurz aufgegriffen. Er stellte die mehr als berechtigte Frage nach einem Instrumentarium der Vereinten Nationen, wenn eine rechtsbrechende Veto-Macht durch ihr eigenes Veto-Recht geschützt bleibt. Nach seiner Meinung sollte dringend ein Ansatz gefunden werden, um die Generalversammlung in die Lage zu versetzen, in einem solchen Fall ein Veto überwinden und damit die zentralen Ziele der Völkergemeinschaft kraftvoll verfolgen zu können. Naumann deutet dabei an, dass „eine weitere Ausgestaltung der von der Generalversammlung bereits gebilligten R2P“ hier einen denkbaren Weg weisen könnte. Diese Randbemerkung lohnt einen tieferen Blick auf diesen Ansatz.

Die vergleichsweise neue und seither nicht unumstrittene Idee der internationalen Schutzverantwortung (responsibility to protect – R2P) zielte ursprünglich auf völlig andere Szenarien als die des aktuellen Ukrainekrieges ab. Es geht kurzgefasst um eine völkerrechtliche Begründung von Maßnahmen, die seitens der Vereinten Nationen gegen solche Staaten gebilligt und ergriffen werden, die in ihrem Inneren nicht zum Schutz ihrer Bevölkerung etwa vor schweren Menschenrechtsverletzungen oder gar Völkermord willens oder imstande sind. R2P bedeutet damit eine partielle Abkehr von dem Nichteinmischungsgebot in die inneren Angelegenheiten von Staaten, dies allerdings nur unter ganz engen und strengen Voraussetzungen – und letztlich nur unter der Flagge der Vereinten Nationen. Das Grundprinzip der Souveränität wird damit angetastet. Und mehr noch: Aus dem „Recht zum Eingreifen“ der Völkergemeinschaft wird eine Art „Verantwortung zur Intervention“ in bestimmten, klar definierten Fällen, dies natürlich unter Beachtung unter anderem der Verhältnismäßigkeit der Mittel und Redlichkeit der Motive. Letzteres weist darauf hin, wie wichtig es ist, eine missbräuchliche Anwendung von R2P zu verhindern – was auch einen der Hauptkritikpunkte an diesem neuen Prinzip berührt.

Die aktuell spannende Frage lautet also: Lässt sich der noch rudimentäre und wenig erprobte Grundgedanke der R2P auch auf solche Fälle übertragen bzw. erweitern, in denen eine der fünf Veto-Mächte (!) einen eklatanten und die internationale Sicherheit gefährdenden Rechtsbruch unbeschadet begehen kann? Keine Frage: Gelänge dies, so wäre den Vereinten Nationen ein erhebliches Stück mehr Handlungsfreiheit in derartigen Extremfällen eröffnet. Aber es gibt eben auch eine ganze Reihe ernstzunehmender Gegenargumente. So etwa die Frage, ob die rechtliche Etablierung dieses Prinzips – die ja nicht gegen den Sicherheitsrat und insbesondere eben dessen Veto-Mächte erfolgen kann – überhaupt eine realistische Chance besitzt. Auch fragt sich, ob es in der Praxis überhaupt sinnvoll ist, einen solchen Ansatz gegen Nuklearstaaten wie etwa die USA oder Russland zur Anwendung zu bringen, ohne eine noch größere Katastrophe für den Weltfrieden auszulösen. Und es bleibt auch offen, wie und durch wen im konkreten Fall solch ein Beschluss umgesetzt werden kann – die Vereinten Nationen selbst verfügen ja nicht über einige Mittel. Damit sind nur einige der zentralen Hürden umschrieben.

Dennoch lohnt es sich, kreativ an Lösungsmöglichkeiten des beschriebenen Dilemmas zu arbeiten. Irgendwie leuchtet es ja nicht ein, dass derart überwältigende Voten der Staatengemeinschaft formal letztlich irrelevant bleiben. Das aktuelle Beispiel der rechtswidrigen russischen Intervention und Annexion ukrainischer Gebiete macht dies mehr als dringlich. Aber auch über die aktuelle Lage hinaus ist zu beachten: Es deuten sich auch in anderen Regionen ohne allzu große Phantasie vergleichbare Zukunftsszenarien unter Einschluss der Veto-Mächte an. Die Weltgemeinschaft braucht also dringend einen besseren und robusteren Werkzeugkasten, um ihrer Aufgabe der Sicherung des Weltfriedens gerecht zu werden und internationales Recht durchsetzen zu können. Es ist höchste Zeit für eine entschiedene Stärkung der Vereinten Nationen!

Über Kersten Lahl

Kersten Lahl (* 6. Juli 1948 in Bielatal) ist Generalleutnant a.D. des Heeres bei der Bundeswehr und war nach seiner Pensionierung von 2008 bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war Kersten Lahl von 1991 bis 1994 Adjutant und militärpolitischer Berater des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und publiziert zu verschiedenen sicherheitspolitischen Themen.

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Über Kersten Lahl

Kersten Lahl (* 6. Juli 1948 in Bielatal) ist Generalleutnant a.D. des Heeres bei der Bundeswehr und war nach seiner Pensionierung von 2008 bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war Kersten Lahl von 1991 bis 1994 Adjutant und militärpolitischer Berater des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und publiziert zu verschiedenen sicherheitspolitischen Themen.

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