The Pioneer-Kolumne „Situation Room“ von Dr. Hans-Peter Bartels
Olaf Scholz gilt eigentlich als Politiker, der immer noch „einen im Sinn“ hat. Der nicht gleich alles sagt, was er weiß. Der strategisch denkt. Was auch immer dazwischen kommt – ein grottenschlechtes Ergebnis bei der Wahl zum SPD-Generalsekretär, die Nicht-Wahl zum Parteivorsitzenden –, Olaf Scholz steht nie dumm da. Stets hat er einen Plan, in dem sich am Ende alles fügt.
Jetzt ist er Bundeskanzler. Er hat nach Putins Überfall auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ in der deutschen Sicherheitspolitik ausgerufen, was durchaus hätte populär sein können. Doch jetzt liefert er nicht.
Die Ukraine bittet und fleht um schwere Waffen, weil die russische Grossoffensive an der Donbas-Front wohl mit leichten Handwaffen allein nicht aufzuhalten sein wird. Was nicht in den nächsten Tagen und Wochen ankommt, rettet die Front nicht mehr! Und wie lange noch, bis dann die ganze Ukraine zusammenbricht?
Andere Nationen schicken deshalb nun in Eiltransporten schwere Artillerie, Panzer, Drohnen, komplexere Luftabwehr. Doch die Regierung des größten und wirtschaftlich stärksten Landes Europas scheint auf Zeit zu spielen: Da muss man erst noch Hilfsersuchen und Industrieangebote auswerten, Listen prüfen, Bedenken anmelden. Dann wird Geld in Aussicht gestellt (wenn denn der Haushalt beschlossen sein wird) – das ist der deutsche Weg heute. Wieder ein nationaler Sonderweg?
Dass CDU und CSU den Kanzler dafür massiv kritisieren, könnte er als demokratische Normalität wegschweigen. Doch fundamentale Kritik kommt auch von seinen Koalitionspartnern Grüne und FDP und sogar von Einzelnen aus der SPD, die sich etwa vor Ort sachkundig gemacht haben.
Olaf Scholz muß also gute Gründe für die international beargwöhnte, in letzter Instanz nur vom Kanzler selbst zu verantwortende deutsche Zurückhaltung haben. Ob gut oder schlecht, bisher wurden diese möglichen Gründe jedenfalls nicht öffentlich benannt, trotz des wachsenden Erklärungsdrucks. Vielleicht weil man noch mehr Schwierigkeiten befürchtet, wenn man sie thematisiert?
Was also könnte es für Scholz-Zwänge geben? Und was ist der Plan?
Hier kommen vier Spekulationen zum Versuch einer Erklärung der aktuellen Regierungspolitik.
Erstens: Scholz weiß aus seinen Telefonaten mit Putin, was der genau erreichen will, akzeptiert begrenzte territoriale Eroberungen Russlands und erwartet einen baldigen Waffenstillstand. Deutschland würde helfen, einen Status-Quo-Frieden zu vermitteln. Für diese Rolle wären erkennbare Hauptwaffensysteme der Bundeswehr auf dem ukrainischen Schlachtfeld „nicht hilfreich“. Problem: Was kann man Putin glauben? Er lügt unausgesetzt. Und überhaupt: Dürfte es vorab ein stillschweigendes deutsches Einverständnis zu einer weiteren gewaltsamen Neuaufteilung der Ukraine geben?
Zweitens: In seinen Telefonaten mit dem Bundeskanzler drohte Putin, von sich aus die Gaslieferungen nach Deutschland komplett zu stoppen – mit unabsehbaren Folgen für Wirtschaft, Wachstum und Wohlstand –, wenn Deutschland die Ukraine militärisch allzu wirksam unterstützt. Problem: Funktioniert das Abstellen eines Teils der russischen Gasförderung technisch überhaupt? Und nebenbei: Dürfte sich Berlin so erpressen lassen?
Drittens: Die nachrichtendienstliche Aufklärung hat ergeben, dass Putin auch zum Einsatz taktischer Nuklearwaffen finster entschlossen ist, wenn westliche Waffenhilfe seinen Ukraine-Feldzug scheitern ließe. Auf deutschem Boden hiessen die ersten drei Atomziele Berlin (Regierungsviertel), Hamburg (Hafen) und Büchel (US-Sonderinfrastruktur). Das könnte die ungewöhnlich harte, direkt auf Putin zielende Entschlossenheits-Rhetorik in der Zeitenwende-Rede des Kanzlers erklären. Inzwischen aber ist Zögern an die Stelle von Entschlossenheit getreten. Problem: Würden wir aus Angst vor Putins Atomdrohung jetzt die Ukraine opfern – was käme als nächstes?
Viertens: Scholz will einen Aufstand von jenen Teilen seiner Regierungspartei SPD vermeiden, die traditionell russlandfreundlich, amerikakritisch, äquidistant oder eher pazifistisch eingestellt sind. Die anderen SPD-Teile, die bündnissolidarisch, menschenrechtsbewegt und realpolitisch für substanziellere Ukraine-Hilfe argumentieren, hält er mit seiner Kanzler-Autorität auf Stillhalte-Linie. Problem: Die SPD wird sich eher früher als später in aller Öffentlichkeit doch erklären und entscheiden müssen. Hier, in seiner eigenen Partei, wäre von Scholz nun zuallererst Führung zu erwarten. Käme die zu spät, könnte nicht nur die souveräne Ukraine, sondern auch die Berliner Ampel-Koalition schon Geschichte sein.
All das bleibt aber Spekulation, solange wir den Plan nicht und nicht die Argumente kennen, die Olaf Scholz im Sinn hat. Er sollte deshalb bald erklären, welchen Weg Deutschland geht, und warum.
Dieser Artikel erschien am 09.04.2022 unter : https://www.thepioneer.de/originals/thepioneer-expert/articles/was-ist-der-plan
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