Strategie mit Restrisiko

Nichts ist falsch an dieser neuen Nationalen Sicherheitsstrategie. Wer vieles bringt, wird allen etwas bieten, vom Klimaschutz über Migration und Ernährung bis zu Lieferketten und Medienkompetenz. Extrem ganzheitlich wird hier der Sicherheitsbegriff durchdekliniert. Das rot-grün-gelbe Gesamtmotto lautet: „Wehrhaft, resilient, nachhaltig“.

Allerdings kommt das Militärische wieder recht kurz in dieser reich bebilderten 74-seitigen Broschüre der Bundesregierung. Wie schon im letzten „Weißbuch“ von 2016 tauchen Begriffe wie Heer, Luftwaffe und Marine kein einziges Mal auf. Auch die militärische Reserve sucht man vergeblich.

Dafür ist immerhin schon der erste Satz des Kanzler-Vorworts ein starkes Statement, auf das man in den bevorstehenden Verteilungskämpfen der Ampel-Koalition vielleicht noch zurückkommen könnte: „Es ist die wichtigste Aufgabe eines jeden Staates, einer jeden Gesellschaft für die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu sorgen.“ Merke: die wichtigste Aufgabe, noch wichtigere gibt es nicht! Denn: „Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit, keine Stabilität, keinen Wohlstand.“

Olaf Scholz persönlich erneuert sein Bekenntnis zur militärischen Wehrhaftigkeit, indem er schreibt: „Die Zeitenwende, die Russlands Angriffskrieg bedeutet, nehmen wir zum Anlass, um unsere Bundeswehr endlich angemessen auszurüsten. Damit sie ihren Kernauftrag auch in Zukunft erfüllen kann: Die Verteidigung unseres Landes und unserer Bündnispartner gegen jeden nur denkbaren Angriff.“

Auch wenn die mühsam geeinte erste Nationale Sicherheitsstrategie neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ und einem erweiterten „Fähigkeitsprofil“ (auf die man noch warten muss) nicht vorgreift, so ist sie doch wertvoll, weil sie eine ganze Reihe politischer Grundsatzentscheidungen seit dem 24. Februar 2022 (nukleare Teilhabe, Raketenabwehr, Sondervermögen, zwei Prozent) als Koalitionskonsens jetzt verbindlich festhält.

Zudem ist ausdrücklich die Rede von „Präsenz“ im Bündnisgebiet, womit etwa die dauerhafte Vorne-Stationierung einer vollen Heeresbrigade in Litauen abgedeckt sein sollte. Das bewährte Konzept der Abschreckung feiert Wiederauferstehung, sowohl konventionell als auch nuklear. Und gestärkt werden soll – sei es aus Gerechtigkeitsgründen, sei es vorsichtshalber – der europäische Pfeiler der Nato.

Erwähnung finden weiterhin die Dimensionen Weltraum und Cyber, Deutschlands maritime Abhängigkeit und unsere Rolle als Drehscheibe für den Aufmarsch von Bündniskräften im Ernstfall. Militärische Beschaffungen sollen wenn möglich europäisch erfolgen, aber da Tempo Vorrang hat, kann es erstmal auch amerikanisch oder israelisch sein. Die deutsche Rüstungsindustrie wird insgesamt positiv gesehen. Erneut ist von „Schlüsseltechnologien“ (die noch zu definieren wären) die Rede.

Auf den Rüstungsexport dürfte sich eine interessante Kategorisierung der multipolaren Welt auswirken: Danach gibt es a) Länder wie Deutschland, demokratisch und der regelbasierten internationalen Ordnung verpflichtet, b) Länder, die nicht demokratisch sind, aber dem Einflußsphären-Imperialismus revisionistischer Mächte Widerstand entgegensetzen, und c) Länder, die gewissermassen auf dem anderen Ufer stehen – als direkte „Bedrohung“ (Rußland) oder „systemischer Rivale“ (China) – und deren Satelliten. An A- und auch an B-Länder kann in Zukunft, nach Genehmigung, geliefert werden (bevor Länder aus der Kategorie C das tun).

Schliesslich gehört zu den wichtigsten Weichenstellungen der Zeitenwende-Politik seit der Kanzler-Rede vom 27. Februar 2022 das klare Bekenntnis zur Zwei-Prozent-Verabredung. Das steht nun koalitionsamtlich in der Nationalen Sicherheitsstrategie, allerdings etwas weichgespült: „Zunächst auch durch das neugeschaffene Sondervermögen Bundeswehr werden wir im mehrjährigen Durchschnitt unseren 2%-BIP-Beitrag zu den Nato-Fähigkeitszielen erbringen.“

Da aber der reguläre Verteidigungshaushalt in den Ampel-Jahren stagniert, werden künftige Koalitionsregierungen nach dem schnellen Verbrauch der 100 Milliarden, wohl ab 2027, einen Riesensprung (um dann etwa plus 30 Milliarden Euro) durchsetzen müssen, um „nachhaltig“ bei zwei Prozent zu bleiben. Darin liegt für die heutige Bundeswehrplanung ein bemerkenswertes Restrisiko.

Dieser Artikel erschien ebenfalls als Kolumne im Magazin Die Bundeswehr am 5. Juli 2023.

Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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