The Pioneer-Kolumne „Situation Room“ von Dr. Hans-Peter Bartels
Der 100-Milliarden-Rüstungsfonds, von Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach Putins Überfall auf die Ukraine angekündigt, beschleunigt alles: die Beschaffungsplanung im Verteidigungsministerium, Entscheidungsprozesse im Parlament – und die Angebotserstellung auf Seiten der Rüstungsindustrie.
Der Düsseldorfer Rheinmetall-Konzern soll dem Ministerium schon lieferbares Wehrmaterial im Wert von über 40 Milliarden Euro angezeigt haben, von Panzern bis zu neuartigen Artilleriegeschossen. Bei Airbus rechnet die deutsche Verteidigungssparte in München jetzt fest mit der zügigen Bestellung einer fünften Tranche ihres Mehrzweck-Kampfflugzeugs Eurofighter für – je nach Servicepaket – fünf bis zehn Milliarden Euro. Und die Flugkörper-Spezialisten von MBDA in Schrobenhausen beleben die schon totgeglaubte Raketenabwehrtechnik ihres finanziell völlig aus dem Ruder gelaufenen 14-Milliarden-Programms TLVS wieder für eine künftige deutsche Luftverteidigung.
Die zusätzlichen 100 Milliarden Euro schnell zu verplanen, scheint kein Problem zu sein. Grundlage ist und bleibt das weiter gültige 2018 erlassene „Fähigkeitsprofil“ der Bundeswehr, das damals Rüstungsinverstitionen in Höhe von 200 Milliarden Euro bis 2031 vorsah, militärisch sauber abgeleitet aus den deutschen Kräftezusagen an die Nato. Nur finanzierbar schien dieser Plan zur Vollausstattung einer einsatzbereiten Bundeswehr damals nicht, nicht im Ansatz. Der Anteil der reinen Rüstungsinvestitionen lag etwa im letzten beschlossenen Verteidigungshaushalt, 2021, bei acht Milliarden Euro für Waffen und Gerät.
Diese Summe dürfte sich durch jährliche Zuflüsse aus dem in Aussicht gestellten Bundeswehr-„Sondervermögen“ auf absehbare Zeit mehr als verdoppeln. In einer Grössenordnung von vielleicht 20 Milliarden Euro pro Jahr werden die amtlichen Rüster von nun an einkaufen können. Die Scholz-Rede war der lange ersehnte politische Befreiungsschlag.
Dabei werden die ersten Großaufträge allerdings nicht an die deutsche Industrie gehen, sondern nach Amerika. Denn im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung steht nicht nur ein politisches Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe Deutschlands im Bündnis, sondern auch die Selbstverpflichtung, gleich zu Beginn der Legislaturperiode über die Beschaffung eines geeigneten Atom-Trägersystems als Nachfolger für den alten europäischen Jagdbomber Tornado zu entscheiden. Realistischerweise kamen hier nur zwei US-Flugzeugtypen in Frage: die F-18 von Boeing, die von der Vorgängerregierung schon einmal ausgewählt, aber noch nicht bestellt worden war, und der modernere Tarnkappen-Jet F-35 von Lockheed Martin, den Kanzler Scholz in seiner Regierungserklärung ausdrücklich erwähnt hatte. Inzwischen hat Verteidigungsministerin Lambrecht wie erwartet die offizielle Auswahlentscheidung zugunsten der F-35 bekanntgegeben.
Ein Teil der verbliebenen Tornado-Flotte wird nun also durch den Lockheed-Flieger (35 Stück) ersetzt, der Rest durch weitere Eurofighter. Für die US-Industrie ein Geschäft, das alles in allem mehr als fünf Milliarden Euro wert sein dürfte.
Mit einem ähnlichen Finanzbedarf rechnen die Bundeswehrplaner auch bei einem anderen, aus Geldnot mehrfach verschobenen Zukauf aus amerikanischer Produktion: Für die Beweglichkeit des deutschen Heeres braucht die Luftwaffe neue schwere Transporthubschrauber als Ersatz für die abgeflogenen CH-53-Helikopter. Zur Auswahl stehen von Lockheed Martin (Sikorsky) die modernere CH-53K und von Boeing die bereits in Vietnam eingesetzte CH-47 Chinook mit den charakteristischen zwei Rotoren.
Einen Technologiesprung nach vorn erhofft sich die Marine in diesen Zeiten durch ein mögliches Vorziehen des Auftrags für vier Luftverteidigungs-Fregatten (Nachfolge F-124), die dann auch die Fähigkeit zur Raketenabwehr haben sollen.
Dies alles ist wichtig und wird kommen, so oder so. Aber der Schwerpunkt in Sachen Vollausstattung und Modernisierung müsste eigentlich sehr eindeutig beim Heer liegen. Auf dessen der Nato zugesagte drei Divisionen mit acht bis zehn deutschen Kampfbrigaden (je 5000-6000 Soldatinnen und Soldaten) muss die Allianz für die Bündnisverteidigung setzen. Während zusätzliche alliierte Luftwaffen- und Marine-Verbände vergleichsweise schnell ostwärts, in die Richtung einer krisenhaften Bedrohung verlegt werden können, zählt am Boden für die Abschreckung eines Aggressors erst einmal nur das, was tatsächlich in der Mitte Europas gefechtsbereit und verlegefähig präsent ist. Bis Verstärkung über den Atlantik oder aus Grossbritannien, aus Italien oder aus Spanien ankommt, kann die Lage längst eskaliert sein.
Deshalb duldet die moderne Vollausstattung unserer seit Jahrzehnten auf Verschleiss gefahrenen Landstreitkräfte keinen Aufschub. Sie brauchen funktionsfähige Schützenpanzer und Kampfhubschrauber, mehr Artillerie und Drohnen, grössere radbewegliche Verbände, digitale Fernmeldetechnik, komplette Nachtkampffähigkeit, Pionierbrücken, eigene Flugabwehr, eigenen Nachschub und eigene Sanität und natürlich die lange versprochene persönliche Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten auf State-of-the-Art-Niveau.
Als Teil des dringendsten Sofortbedarfs brauchen Heer, Luftwaffe und Marine quer durch die Last Munition und Lenkflugkörper, um für mehr als einen harten Tag gerüstet zu sein. Denn nur symbolische Bewaffnung schreckt nicht ab.
Nicht alles jetzt zu priorisierende Heeresgerät kann oder muss Rheinmetall (oder KMW/Nexter) liefern. Aber der Anteil aus deutscher und europäischer Produktion wird sehr hoch sein. Noch setzt hier nämlich die heimische Industrie die internationalen Standards – was plötzlich nicht mehr wie ein „Pfui-Export“-Thema klingt, sondern wie eine gute, beruhigende Nachricht.
Die versprochenen Milliarden sind bislang noch nicht angekommen. Schon hinter dem Versprechen möchte ich ein Fragezeichen setzen, wenn ich verschiedene Stimmen aus dem Bundestag vernehme. Auch werden schon Überlegungen angestellt, welche Ausgaben mit diesen 100 Milliarden bestritten werden sollen, die mit Sicherheit nichts mit den Kernaufgaben der Bundeswehr zu tun haben. Warten wir’s also ab. Viel Zeit bleibt allerdings nicht.
In der Tat nicht einfach, aber eine sehr gute Perspektive, im Vergleich zur bisherigen (durch Experten und die Truppe immer wieder erfolglos kritisieren) Situation. Luftwaffe und Marine waren/ sind immer sehr teuer. Das wird auf der Zeitachse passieren. Gleichwohl sind, wie dargestellt, die Landstreitkräfte deutlich rascher voll auszustatten (und auch ausstattbar) sowie zu modernisieren. Dies ist mit nicht unwesentlichen Investitionen bei der SKB, CIR und der Sanität verbunden. Wo das Heer hinmöchte (und muss), liegt auf dem Tisch. Also: Anpacken, investieren und gutes Personal halten/ holen. Dann kräftig üben und hoffentlich nie einsetzen. Fast wie früher …..
Die Zeiten ändern sich natürlich, und mit ihnen die Kriterien für eine angemessene Verteidigungsvorsorge. Aber nur mal zum ganz groben Vergleich: Im Kalten Krieg verfügte das deutsche Feldheer über 12 weitgehend vollausgestattete und enorm kampfkräftige Divisionen mit 36 Kampfbrigaden und zusätzlich entsprechenden Verbänden etwa der Kampfunterstützung, Logistik und Führungsunterstützung. Für die Luftwaffe und Marine könnte man Ähnliches anführen. Das macht deutlich, wo die Bundeswehr nach nur drei Jahrzehnten gelandet ist und welch weiter Weg ihr nun bevorsteht, um nur halbwegs den Anforderungen genügen zu können. Das Extra-Geld ist also bitter nötig, wie Hans-Peter Bartels es beschreibt. Und es wird wichtig sein, es zielgerichtet so auszugeben, dass ein in sich schlüssiger, runder Wiederaufbau gelingt. Gar nicht so einfach.