Zur jüngsten Rede von Bundespräsident Steinmeier
I.
Deutschland hatte bisher meist großes Glück mit seinen Bundespräsidenten. Sie waren herausragende Autoritäten und würdige Repräsentanten der Bundesrepublik in In- und Ausland. Zugegeben: Ihre formale Macht in unserem parlamentarischen Regierungssystem ist beschränkt. Aber gleichwohl verfügen sie über ein – wenn richtig genutzt – sehr starkes Instrument, mit dem sie das Land prägen und ihm die Zukunft weisen: Das Wort.
Die bedeutsamen Ansprachen der Bundespräsidenten sind weniger dem kurzlebigen politischen Alltag gewidmet, sondern zielen eher auf grundsätzliche, langfristig ausgelegte Reflexion. Sie beleuchten mitunter wichtige Nischen, die sonst wenig Beachtung finden würden. Aber meist richten sie sich auf das große Ganze, also auf die grundlegende Philosophie des Miteinanders in unserem Land und im internationalen Bereich. Sie wirken damit im Idealfall generalisierend und weit über den Tag hinaus, statt sich darauf zu beschränken, dem partikularen Klein-Klein nur eine weitere Facette hinzuzufügen. Sie verbinden also, statt zu polarisieren und bekräftigen dabei den Grundsatz: Der Staat, das sind wir alle – heute und morgen.
Aus der langen Reihe der Reden unserer Bundespräsidenten stechen bisher zwei besonders heraus. Beide werden noch lange im kollektiven Gedächtnis verbleiben. Sie spielten und spielen eine entscheidende Rolle in der Aufgabe, unserem Land seinen Platz in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zuzuweisen.
– An allererster Stelle ist die Rede Richard von Weizsäckers im Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 anzuführen, dem 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Seine für damalige Zeiten so mutige wie überraschende Kernaussage, der 8. Mai – für viele ja vor allem ein Tag der Niederlage und Demütigung – sei in Wirklichkeit als „Tag der Befreiung“ zu werten, findet bis zum heutigen Tag ebenso eine überwältigende Zustimmung wie seine These, die Deutschen träfe keine Kollektivschuld, aber unser Land müsse gleichwohl seine schwere Erbschaft der Vergangenheit annehmen. Man kann behaupten: Spätestens mit dieser Rede nahm die Bundesrepublik Deutschland einen wieder allseits geachteten Platz in der Völkergemeinschaft ein – alles andere als eine Selbstverständlichkeit nach den Gräueln unserer Vergangenheit im 20. Jahrhundert.
– Zwölf Jahre später (am 26.04.1997) rückte Roman Herzog dann Gegenwart und Zukunft des inzwischen geeinten Deutschlands ins Visier. Er beschrieb die Anforderungen beim bevorstehenden Aufbruch in das 21. Jahrhundert und folgerte, durch Deutschland müsse „ein Ruck gehen“ – dies vor allem mit Blick auf Innovation, Veränderungsbereitschaft und Eigenverantwortung. Herzog erkannte einen durchgreifenden Reformbedarf, der dringend abzuarbeiten sei, um einer Erstarrung der Gesellschaft, einer mentalen Depression und dem drohenden Verlust wirtschaftlicher Dynamik entgegenzuwirken. Wenn man so will, dann lässt sich bereits diese Rede als Aufforderung zu einer „Zeitenwende“ interpretieren – freilich unter dem damals bekannten europäischen und globalen Bedingungen.
II.
Vor wenigen Tagen nun, am 28. Oktober 2022, meldete sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aus dem Schloss Bellevue mit einer breit angekündigten Grundsatzrede zu Wort. Im Kern seiner Ausführungen stand der 24. Februar als „Epochenbruch“, dies als Ausgangspunkt für die „tiefste Krise, die unser wiedervereintes Deutschland erlebt“ – und mit der Folge, dass „härtere Jahre, raue Jahre“ auf uns zukommen.
Der Verursacher dieser Erkenntnis wird klar benannt: Russlands brutaler Angriffskrieg mit den niederträchtigen und menschenverachtenden Attacken der letzten 8 Monate. Und Steinmeier lässt auch wenig Zweifel daran, dass ein „vermeintlicher Friede, der Putins Landraub besiegelt“, kein Friede sein könne – eine deutliche Absage an alle Bestrebungen, die diplomatisches Wunschdenken oder gar Appeasement gegenüber Moskau als wirksamen Lösungsansatz begreifen. In diesem Epochenbruch, davon ist Steinmeier überzeugt, sollten wir nicht unsere Werte verändern, wohl aber unsere Ziele schärfen und auf die neuen Herausforderungen anpassen. Deutschland sei dabei keine globale Führungsmacht, gehöre aber zu den „Großen in Europa“ – unterliege also hohen Erwartungen mit Blick auf seine Rolle zur Stärkung Europas.
Zugleich lenkt der Bundespräsident den Blick über den Ukrainekrieg hinaus, wenn er von Epochenbruch spricht. Insbesondere weist er darauf hin, dass etwa der Klimawandel ein gemeinsames Vorgehen erfordere, also nur ohne Blockkonfrontation angegangen werden könne. Die Sorge sei groß, dass diese globale Menschheitsaufgabe gerade jetzt in den Hintergrund gerate. Und schließlich appelliert Steinmeier an die Widerstandskraft der Bürgerinnen und Bürger und nimmt sie in einer Phase hoher Verletzlichkeit („weil wir offen sind und weil wir auch offen bleiben wollen“) besonders in die Pflicht. Er beschwört Respekt und Vernunft, um „dem Gift des Populismus, der Gefahr des Auseinanderdriftens wirksam etwas entgegenzusetzen“. Dabei spiele unter anderem auch eine ehrliche Debatte über eine soziale Pflichtzeit eine wichtige Rolle.
III.
Wenn man die hohen und teils aktiv geschürten Erwartungen an diese Rede von Frank-Walter Steinmeier zum Maßstab nimmt, so kann im Nachgang der eine oder andere Kritiker eine gewisse Enttäuschung wohl nicht verbergen. Vielleicht kommt die bittere Erkenntnis eines Epochenbruchs und insbesondere auch der wahren strategischen Ziele Putins schlichtweg um mindestens acht Monate, vielleicht sogar um mehrere Jahre zu spät. Und: Grundlegend Neues im Vergleich zu dem, was spätestens seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine unter dem Stichwort „Zeitenwende“ breit und kontrovers in der Öffentlichkeit debattiert wird, lässt sich kaum herauslesen – außer vielleicht der Erkenntnis, dass sich der Bundespräsident der herrschenden Auffassung der aktuellen Bundesregierung und der Mehrzahl der Kommentatoren sichtbar angeschlossen hat.
Dennoch ist diese Rede nicht nur überfällig, sondern auch höchst wertvoll. Sie weist Deutschland und Europa in der aktuell so brisanten Lage den Platz zu, der beiden gebührt. Und mehr noch: Sie bekräftigt die Erkenntnis, an einer Wegscheide zu stehen, die ein bequemes „Weiter so“ nicht erlaubt, sondern durchgreifendes Neubesinnen auf unsere Werte und ein aktives Verteidigen derselben erzwingt. Auf präsidiale Art rückt sie dabei die deutschen, europäischen und globalen Zukunftsaufgaben ins Bewusstsein und bekräftigt die mit ihnen verbundenen Anforderungen an Staat und Gesellschaft.
Natürlich muss und kann nicht jede Rede eines Bundespräsidenten gleich eine Jahrhundertrede werden. Allerdings waren Aussagekraft und Autorität des Staatsoberhaupts selten stärker gefragt als heute.
Hier die Rede zum Nachlesen.
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