Die deutsche Strategie

Außenwahrnehmung Deutschlands in der Welt

Ukraine, Gas, Lieferketten, Inflation – so viele Krisen gleichzeitig: Global ordnen sich alle Verhältnisse neu. Die EU hat längst einen zeitgemässen sicherheitspolitischen „Kompass“ beschlossen, die Nato jetzt eine neue „Strategie“. Und auch in Deutschland will die Ampel-Regierung bis Jahresende erstmals eine eigene „nationale Sicherheitsstrategie“ erarbeiten. Es wird ein nachholendes Dokument für eine Berliner Krisenpolitik, die heute schon vieles anders angeht als in den Zeiten zuvor.

In seiner Regierungserklärung zur „Zeitenwende“ hat Bundeskanzler Olaf Scholz bereits ein neues deutsches Selbstverständnis zum Ausdruck gebracht. Für manche überraschend sprach er ausdrücklich von „Grösse und Bedeutung“ unseres Landes, das von aussen offenbar ganz anders betrachtet wird als wir uns angewöhnt haben, uns in heuchlerischer Bescheidenheit selbst zu sehen. 

Deutschland ist die viertgrösste Volkswirtschaft der Welt, die zweitgrösste Nato-Nation, das bevölkerungsreichste und ökonomisch stärkste Land Europas, zweitwichtigster Zahler für die Vereinten Nationen. Die Welt schaut darauf, was Deutschland denkt und will, tut oder unterlässt.

Dieses Land ist nicht mehr geteilt, steht nicht mehr unter der Aufsicht wohlwollender Siegermächte. Es ist ganz souverän und voll verantwortlich, nach „Grösse und Bedeutung“ vielleicht sogar eine „Grossmacht“ (wie vor Jahren einmal der heutige Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer, sein Deutschland-Buch betitelte: „Deutschland ist eine Grossmacht“). Jedenfalls eine Macht.

Festschreiben sollte unsere nationale Strategie Deutschlands sicheren Platz im freien Westen. Keine Äquidistanz zwischen Ost und West! Kein Neutralismus! Kein Europa-gegen-Amerika-Ausspielen (wie es unsere französischen Freunde lieben)! Wir sind heute (gottlob und endlich) ein selbstverständlicher Teil der demokratischen Welt – die gegenwärtig allerdings von aussen und von innen enorm unter Druck steht.

Wir treten ein für die universelle Gültigkeit der Menschenrechte. Jeder Mensch ist zur Freiheit geboren und begabt. Es gibt keine „andere“ Freiheit in anderen, totalitären Welten. (Zur historisch-materialistischen „Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit“ gehören immer Geheimpolizei und Gulag!) Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit und Marktwirtschaft sind keine imperialistischen Zwangsinstrumente zur Unterdrückung autochthoner Kulturen, sondern die schwer erkämpften Grundbedingungen einer Ordnung der Freiheit, in der Menschen ihr Leben selbst bestimmen können.

Deutschland will – das wird gewiss in dem Strategiepapier stehen – aktiver Teil der Bündnisse bleiben, die diese Freiheit schützen: in der Europäischen Union und in der Atlantischen Allianz. Wir setzen auch in der internationalen Politik auf die Stärke des Rechts, auf Multilateralismus und auf eine grössere Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen. 

Unsere militärischen Fähigkeiten zur eigenen Verteidigung und zum Schutz der Bündnispartner müssen „Grösse und Bedeutung“ Deutschlands gerecht werden. Das jahrzehntelange „Outsourcen“ der Verteidigung Europas war unsolidarisch. Der Beitrag Amerikas wird immer gebraucht, aber allzu schamloses deutsches (und europäisches) Kostgängertum beim grossen Bruder ist nicht fair. Die USA sollten in Zukunft im Bündnis mit Europa vor allem der Garant für die Aufrechterhaltung der nuklearen Balance und Abschreckung gegenüber der Atom-Supermacht Russland sein – weil das sonst wirklich kein anderer Mitgliedsstaat kann, auch nicht Grossbritannien und Frankreich.

Sich von anti-demokratischen Staaten, die jetzt Front gegen den Westen machen, wirtschaftlich ein Stück weit abzukoppeln, dürfte vernünftig sein. Und findet auch bereits statt. So wie wir nicht existenziell abhängig von russischen Energieimporten sein dürfen, so müssen auch Seltene Erden und industrielle Vorprodukte aus China schnellstmöglich Gegenstand einer selbstbewussten Diversifizierungs-Strategie werden. Als allgemeine Maxime könnte man vielleicht formulieren: So viel ökonomische Souveränität in Europa wie möglich, so viel Globalisierung wie nötig.

Ein Stichwort, das schon im Weissbuch der Bundesregierung 2016 immer wieder aufploppte, sollte in der Nationalen Sicherheitsstrategie 2022 mit neuer Dringlichkeit thematisiert werden: Resilienz. Was funktioniert noch, wenn „nichts“ mehr funktioniert? Die Experimente mit der Corona-Politik der letzten zwei Jahre könnten da ganz aufschlussreich sein. Es geht jedenfalls nicht nur um Strom und Cyber.

Über die politische Orientierung, die von der Nationalen Sicherheitsstrategie zu erwarten ist, sollte es bereits im Prozess der Formulierung eine breite gesellschaftliche Debatte geben. Annalena Baerbocks Auswärtiges Amt ist hier innerhalb der Bundesregierung federführend.

Eine erste Probe aufs Exempel könnte uns schon in einigen Wochen oder Monaten abverlangt werden. Wenn nämlich Putin nach weiteren Eroberungen freundlicherweise einen Waffenstillstand „anbietet“, die Ukraine aber weiter kämpfen will. Stehen wir ihr dann weiter bei? Ich hoffe, ja.

Dieser Artikel erschien am 10.07.2022 unter Die deutsche Strategie | The Pioneer

Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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