Ein Abgrund teilt Europa

Dr. Hans-Peter Bartels über den Krieg in der Ukraine

Der 24. Februar 2022 markiert eine historische Zäsur. Er ist Europas „9/11“. Die europäische Friedensordnung nach dem Ende der Blockkonfrontation, niedergeschrieben in der Charta von Paris 1990, existiert nicht mehr. Putins Russland führt Krieg in grossem Stil. Das erste Opfer ist die Ukraine.

Westliche Diplomatie ohne glaubwürdige Abschreckung lief am langen Tisch des Kreml-Despoten ins Leere. Härteste Wirtschafts-Sanktionen, die jetzt starten, bleiben richtig, weil man nicht einfach gar nichts tun kann – aber sie stoppen Putin nicht. Er betreibt Geopolitik wie im 19. Jahrhundert, brutal auch gegen die eigene Bevölkerung. Gemeinsame weltweite Programme in Sachen Corona oder Klima interessieren ihn nicht, Angebote zu mehr ökonomischer Kooperation und Partnerschaft mit Europa schlägt er aus.

Worum es dem Moskauer Regime nach eigenem Bekunden geht, das ist die Wiederherstellung der alten totalitär zusammengehaltenen Sowjetunion. Und das bedeutet auch und zuerst die Ausweitung des eigenen Herrschaftsbereichs Richtung Westen. Aus den bisherigen „Pufferstaaten“ Weissrussland (neutral) und Ukraine (Nicht-Nato) würden so russische Aufmarschräume gegen die demokratischen Nachbarn. Kalter Krieg reloaded. Ein militärischer Abgrund teilt Europa.

Und China applaudiert: Die USA und die Nato seien schuld daran, dass Russland die Ukraine überfallen muß. In dieser zynischen neuen Welt leben wir jetzt.

Unsere Handelsbeziehungen dürften sich also neu ordnen. Globalisierung ist kein verlockendes Zauberwort mehr, sondern wird auf faustische Weise mehr und mehr zum Fluch. Regionalisierung, binnenwirtschaftliche Orientierung, Autarkie und Resilienz lauten die Gebote der Stunde. Nicht hinauslaufen darf diese neue Politik allerdings auf Nationalismus und Protektionismus. „So viel Europa wie möglich“ bleibt das beste Leitmotiv. Aber es wird ein grosses Umsteuern geben müssen, um im Systemkonflikt mit den anti-demokratischen Supermächten Russland (Militär) und China (Ökonomie) nicht unterzugehen.

Für Putin und Xi Jinping ist der Westen durch und durch dekadent: mit sich selbst und seinen selbstgemachten Problemen vollauf beschäftigt, alt, verfault, zerstritten, schwach. Trumps Sturm aufs Kapitol, Afghanistan, Syrien, Mali – „mene mene tekel“, die Schrift an der Wand kündet von drohendem Unheil.

Dagegen aber haben Amerika und Europa immer noch alle Mittel und jede Chance, sich selbst zu behaupten. Sie müssen es nur wollen. Franklin D. Roosevelts berühmter Satz aus seiner Rede zur Amtseinführung als US-Präsident 1933 bleibt auch heute gültig, nämlich „dass es nur eine Sache gibt, die wir fürchten müssen: die Furcht selbst“.

Heute gibt der Westen die Ukraine, so wie es aussieht, verloren. Er protestiert und sanktioniert, weil er keinen Dritten Weltkrieg, ausgetragen mit Atomwaffen, riskieren kann. Aber abfinden darf er sich mit den Fakten, die Russland jetzt gewaltsam und völkerrechtswidrig schafft, niemals.

Freiheit und Demokratie sind keine westlichen Luxusartikel, Menschenrechte keine intellektuelle Spielerei, sondern die einzig akzeptablen Ordnungsprinzipien im 21. Jahrhundert. Sie zu schützen, erfordert offenbar ein grösseres Maß an Stärke (auch militärisch), Klugheit und Geschlossenheit, als viele bisher dachten. Sie künftig für mehr und mehr Menschen auf der Welt Realität werden zu lassen, bleibt die Schuldigkeit aller, die selbst in Freiheit leben.

Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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1 Kommentar

  1. Rudolf Horsch

    Ich denke, dass die jüngsten Entscheidungen und Erklärungen der westlichen Staaten, auch im Bundestag, überraschender Weise gezeigt haben, dass der Westen die Ukraine nicht verloren gibt. Ob diese Putin beeindrucken werden, wird sich zeigen. Aber die Entschiedenheit mit der sich die Ukraine seiner Aggression in den Weg stellt, wird ihm zu denken geben.

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Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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