Ein Jahr Zeitenwende

In aufgeklärten, progressiven Milieus dient das, was Willy Brandt gesagt hat, weil er es war, der es gesagt hat, oft als eine Art Letztbegründung für die moralische Richtigkeit politischer Positionen.

Das deckt sich in Ton und Haltung allerdings nicht immer mit dem, was damals und heute als politisch korrekt galt und gilt.

Willy Brandt hat in seinem politischen Testament, seinem Brief an die 1992 in Berlin tagende Sozialistische Internationale, entgegen dem damaligen Zeitgeist darauf hingewiesen, dass die Welt sich nicht quasi naturgesetzlich zum Besseren wandelt, auch wenn nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und dem Ende des Ost-West-Konflikts Freiheit und Selbstbestimmung, Demokratie und das Streben nach Wohlstand und Glück ganz selbstverständlich geworden zu sein schienen: „Unsere Zeit steckt […] voller Möglichkeiten – zum Guten und zum Bösen.“ schrieb er.

Dieses Böse haben wir zum Beispiel in den Balkankriegen mit ihren „ethnischen Säuberungen“ erlebt. Nur durch militärische Intervention konnte der Westen das Morden beenden. In einer Epoche, die der frühere Nato-Oberbefehlshaber James Stavridis eine „Zeit strategischer Überraschungen“ nennt, erschütterte uns 2001 der djihadistische Terror von 9/11. Der Arabische Frühling führte mit dem Sturz von Diktatoren seit 2011 nicht automatisch zu demokratischer Freiheit, sondern auch zu Bürgerkriegen und neuer Autokratie. So viele Möglichkeiten – zum Guten und zum Bösen. Den „Islamischen Staat“, der Millionenstädte überrannte und unterwarf, haben wir nicht kommen sehen. Seine Gewaltherrschaft konnte erst in jahrelangen Anstrengungen militärisch zerschlagen werden.

Putins ersten Angriff auf die Ukraine 2014 nahmen wir als exzentrische Ungeheuerlichkeit zur Kenntnis. Wir verhängten halbherzige Sanktionen, halfen die Fronten einzufrieren und bauten unsere Energieabhängigkeit von Russland weiter aus. Der Bau von Nord Stream 2 wurde endgültig 2015 beschlossen. Als Russlands Armee dann am 24. Februar 2022 von allen Seiten in die Ukraine einmarschierte, sagten viele, nun seien wir in einer neuen Zeit, in einer fundamental veränderten Welt aufgewacht. Andere sagten, jedenfalls seien wir aufgewacht.

Während des Kalten Krieges waren sich die Architekten der Entspannungspolitik durchaus der Ambivalenz, um nicht zu sagen: der Dialektik jeden politischen Handelns in der realen Geschichte bewusst. Schon das Godesberger Programm der SPD von 1959 beginnt mit den Worten „Das ist der Widerspruch unserer Zeit“ und warnt vor dem „Chaos der Selbstvernichtung“ in einem weiteren Krieg. In den Regierungsbeteiligungen 1966 bis 1982 war deshalb der sozialdemokratische Wille zur Entspannung untrennbar verbunden mit stärksten Anstrengungen zur Wehrhaftmachung der Bundesrepublik Deutschland als Teil des atlantischen Verteidigungsbündnisses. „Sicherheit“ wurde in der sozialdemokratischen Wahlprogrammatik fast in den Status eines Grundwerts erhoben. „Mitte der Siebzigerjahre“, schreibt der Historiker Sönke Neitzel, „erreichte die Bundeswehr einen ersten Höhepunkt ihrer Kampfkraft.“

Die sozialliberale Regierung gab regelmässig über vier Prozent des BIP für den westdeutschen Verteidigungsbeitrag aus (2022: 1,5 Prozent), ein Drittel des Bundeshaushalts. Viele Programme für Waffensysteme, die heute ausser Dienst gestellt oder auch noch immer weiter am Laufen gehalten werden, nahmen vor 50 Jahren ihren Anfang: so etwa der Jagdbomber Tornado, der Kampfpanzer Leopard 2, der Schützenpanzer Marder oder der Lenkflugkörper Milan.

Ernsthafte Verhandlungen mit dem Osten aus einer Position der verteidigungsbereiten Stärke heraus und als integraler Teil der westlichen Allianz: Das war – neben dem Schuldbekenntnis, dem Revisionismus-Verzicht und der Versöhnungsbereitschaft – eine der Grundvoraussetzungen des Erfolgs der neuen bundesdeutschen Ostpolitik.

Die bewusste, schmerzhafte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Barbarei kennzeichnet den besonderen geschichtlichen Weg des demokratischen Deutschlands. Am Ende dieses besonderen Weges stand dann aber nicht naturgesetzlich die deutsche Einheit. Auch damals steckte die Zeit „voller Möglichkeiten“. Auf den Tod dreier Generalsekretäre der KPdSU binnen kurzer Frist folgte Michail Gorbatschow. Er erst leitete die welthistorische Wende ein – deren Folgen er freilich selbst nicht komplett übersehen, planvoll herbeigeführt oder genau so gewollt hatte.

Unsere Zeit steckt voller Widersprüche und hält ein ums andere Mal Überraschungen für uns bereit. In der Sicherheitspolitik kommt es deshalb heute darauf an, wirklich erst einmal den existenziellen Hauptzweck zu erfüllen, das heisst: glaubwürdige Abschreckung sicherzustellen. Dies geht allen später möglichen Bemühungen, etwa zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, voraus.

Glaubwürdige Abschreckung bedeutet, um den worst case zu verhindern, für den worst case gerüstet zu sein. Deshalb bleibt die nukleare Teilhabe im atlantischen Bündnis ein wichtiges Kernelement deutscher Sicherheitspolitik. Hinzu tritt jetzt aus guten Gründen die deutsche Initiative für eine europäische Raketenabwehr, nicht in irgendeiner fernen Zukunft, sondern mit allen Mitteln, die heute verfügbar sind, so schnell wie möglich. Putins Atomschlagsdrohungen dürfen keinen Bündnispartner einschüchtern. Sie dürfen weder die Nato noch die EU spalten.

Gegenwärtig kann „europäische Sicherheit“ nur Sicherheit VOR Russland bedeuten. Das Projekt, Sicherheit MIT Russland gemeinsam zu organisieren, ist vorerst gescheitert, möglicherweise länger schon, als wir es uns bisher eingestehen wollten.

Die Geschichte des Strebens nach „gemeinsamer Sicherheit“ ist lang, auch in der Nach-Wende-Ära: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 ( mit einer Begrenzung gesamtdeutscher Streitkräfte auf maximal 370.000 Soldatinnen und Soldaten und dem Ausschluss der Stationierung von fremden Nato-Truppen und Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR), die Charta von Paris 1990 (mit dem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit), das Budapester Memorandum 1994 (für die Übergabe aller ukrainischen, kasachischen und weissrussischen Atomwaffen an Russland bei gleichzeitiger Garantie der Souveränität und territorialen Integrität dieser Staaten durch Russland, die USA und Grossbritannien), die Nato-Russland-Grundakte 1997 (in der die Bedingungen ausgehandelt sind, unter denen ein Beitritt ehemaliger Warschauer-Pakt-Gebiete zur Nato für Russland akzeptabel ist: u.a. der Ausschluss der Stationierung von „substantial combat forces“ anderer Nato-Staaten und von Atomwaffen in den Beitrittsländern), die Nicht-Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die Nato 2008 (aus deutsch-französischer Rücksicht auf die Bedenken Moskaus), das mit deutsch-französischer Vermittlung ausgehandelte Minsker Abkommen 2014 zur Einhegung des Russland-Ukraine-Konflikts – diese gesamte Konferenz- und Vertragspolitik zielte darauf, unter Berücksichtigung der vom Kreml selbst definierten russischen „Sicherheitsinteressen“ immer wieder „gemeinsame“ Lösungen mit Russland zu finden.

Aber all diese gegenseitigen Bindungen hat Putin jetzt zerrissen. Denn tatsächlich bedrohen nicht gegenüberstehende Armeen die Sicherheit der Kreml-Autokratie, sondern funktionierende liberale Demokratien in Russlands Nachbarschaft: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, Abwählbarkeit der Regierung – das sind die Sicherheitsrisiken für jeden Gewaltherrscher in Moskau. Denn militärisch ist die Russländische Förderation unangreifbar. Niemand verletzt die territoriale Integrität eines Landes, das einen Teil seiner Ressourcen dafür eingesetzt hat, weiterhin das grösste Atomwaffenarsenal der Welt (6000 Sprengköpfe) bereitzuhalten.

Sogar die beiden Nord-Stream-Erdgaspipelines, die in Wirklichkeit nie nur „wirtschaftliche“ Vorhaben waren, wie zuletzt immer wieder behauptet, sondern oft auch als Verflechtungsprojekte einer Politik der gemeinsamen Sicherheit durch gegenseitige Abhängigkeit gepriesen wurden, hat mutmasslich Russland selbst inzwischen physisch gesprengt. 1997 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede vor der Duma gesagt, dass Deutschland sich bewusst von „russischen Erdgaslieferungen abhängig“ mache, sei ein „konkreter Ausdruck unseres Vertrauens“ in die neue russische Politik. Dieses Vertrauen ist durch Putins gewalttätigen Revisionismus spätestens seit dem 24. Februar 2022 vollständig zerstört.

Russland erneut als Partner innerhalb einer „europäischen Friedensordnung“ zu sehen, erfordert als konstitutive Voraussetzung zunächst eine Abkehr der Moskauer Despotie von Gewalt und Gewaltandrohung gegenüber seinen Nachbarn, eine selbstkritische Aufarbeitung russischer und sowjetischer Unterdrückungs- und Imperialismusgeschichte (die seit 1990 möglich gewesen wäre) und am besten auch eine Abkehr vom zaristischen Herrschaftsmodell. Die Rückkehr zu den Prinzipien der Charta von Paris, die auch die damalige Sowjetunion noch mit unterzeichnet hatte, böte die richtige Grundlage für eine neue Epoche der Kooperation und Partnerschaft.

Während Putins Feldzug in der Ukraine andauert, ist die Erwartung, dass es wenigstens bei existenziellen Menschheitsaufgaben wie der gemeinsamen Bekämpfung der Erderwärmung weiterhin eine Zusammenarbeit mit Russland geben könne, naiv.

Der Krieg ist das Gegenteil von klimaneutral, ebenso seine Folgen für die europäische Stromproduktion. Und das Abfackeln nicht verkaufbaren Gases schützt nicht, sondern schädigt die Atmosphäre. Einzelvereinbarungen wie das Istanbuler Getreideabkommen widersprechen dem nicht. Sie folgen nicht dem allgemeinen Willen, ein nützliches Glied der Weltgemeinschaft zu sein, sondern situativ einer nüchternen Interessenabwägung in Moskau.

Die durch den Krieg ausgelöste neue Polarisierung im Weltmaßstab und auch innerhalb der freien Gesellschaften des Westens bringt im übrigen eine neue Hochkonjunktur des „Whataboutism“ hervor. Jede Kritik an Putins Aggressionspolitik und seiner Ideologie wird gekontert mit Hinweisen auf angebliche oder tatsächliche Verfehlungen der Politik westlicher Staaten. What about Kosovo? Was war mit dem Irak? Wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland? Wie rassistisch ist Amerika? Für die aufgeklärte Diskussion stellt solches „Argumentieren“ nur eine armselige rhetorische Figur aus dem Kindergarten dar: Selber, selber … Aber es wirkt. Müssten wir denn nicht wirklich, bevor wir der Ukraine gegen die russische Landnahme und die Zerstörung ihrer Infrastruktur helfen dürfen, erst vor unserer eigenen Tür kehren?

Die Antwort lautet: Das können wir jederzeit tun, aber uns sollte auch klar sein, dass Unrecht nicht durch anderes (vermeintliches) Unrecht aufgewogen wird. Und nichts von allem, was der Westen, die EU oder die Nato vor dem 24. Februar 2022 getan oder unterlassen haben, hat Putin gezwungen, die Ukraine zu überfallen. Dieser Angriffskrieg ist keine legitime „Reaktion“, auf nichts! Dagegen bleibt richtig, was Willy Brandt in seinem politischen Testament schreibt: „Wer Unrecht lange geschehen lässt, bahnt dem nächsten den Weg.“

Dieser Artikel erschien ebenfalls als Kolumne in der Europäische Sicherheit & Technik am 3. März 2023.

Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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