Keine Phrase mehr: „Tapfer verteidigen“!

Die Bundeswehr und die nötigen Veränderungen

Manchmal sind es halblaute Zwischentöne, unscheinbare Nebensätze, ungewohnte Begriffe, mit denen grössere Veränderungen beginnen. In der Zeitschrift „Europäische Sicherheit und Technik“ (Juni 2022) schreibt der Militärhistoriker Klaus Naumann, dass mit dem Ukrainekrieg eine „neue Grundsätzlichkeit“ Einzug gehalten habe. Für Deutschland gehe es jetzt nicht allein um die „materielle Kräftigung“ der Bundeswehr, sondern auch um die „geistige Vollausstattung“ unserer Streitkräfte.

Im aktuellen Heft der Zeitschrift „Innere Führung“ weist der Sprecher des ministeriellen Beirats für Fragen der Inneren Führung, Generalleutnant a.D. Rainer Glatz, auf „erforderliche Ergänzungen in der Ausbildung“ hin, die sowohl das soldatische Selbstverständnis als auch „ein den neuen Realitäten gerecht werdendes Mindset“ umfassen müssten.

Glatz und Naumann, der ebenfalls Mitglieds des Beirats Innere Führung ist, gehören zu den militärpolitischen Intellektuellen dieser Republik, die ihre Worte stets sorgsam wägen und in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend auftreten.

Wuchtiger hat das Deutsche Heer in seinen noch vor dem Ukrainekrieg formulierten vorläufigen „Operativen Leitlinien“ auf den Punkt gebracht, was zur „Selbstbehauptung Deutschlands und seiner Alliierten“ erforderlich ist: Neben einer „kriegstauglichen materiellen Vollausstattung“ geht es für den Heeresinspekteur, Generalleutnant Alfons Mais, vor allem um „Geist, Können und Haltung“ seiner Soldatinnen und Soldaten.

Geistige Vollausstattung, realitätsgerechtes Mindset, Kriegstauglichkeit – das bedeutet nach den klassischen Innere-Führung-Grundsätzen der Bundeswehr,

– erstens, zu wissen, wofür man als Soldatin und Soldat höchstpersönlich einsteht, was es also zu verteidigen, wofür es zu kämpfen gilt: Freiheit und Demokratie,

– zweitens, kämpfen zu können, das heisst, optimal ausgebildet zu sein an modernen Waffensystemen, die einsatzbereit zur Verfügung stehen,

– und drittens, auch kämpfen zu wollen, das heisst, im Ernstfall die ganz natürliche Angst vor dem Verwundet- oder Getötet werden und auch vor dem todbringenden Einsatz seiner eigenen Waffen zu überwinden.

Der Tapfere kennt die Gefahr, und die Furcht ist ihm nicht fremd, aber er verteidigt trotzdem mit seinem Leben „tapfer das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes“, wie es mit schlichtem Pathos im Gelöbnis und im Eid der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr heisst.

Dies alles war so weit weg für unsere pazifizierte deutsche Gesellschaft wie auch für die Bundeswehr, die mit „Stabilisierung“, „Aufklärung“ und „Ausbildung“ in Afghanistan/Mali/Irak voll ausgelastet schien. Die zu bewältigenden Krisen hiessen zuletzt Corona und Überschwemmung, aber nicht Panzerabwehr und Artillerieduell.

Russlands Überfall auf die Ukraine zeigt nun, wie es aussieht, wenn – so wahnsinnig, altmodisch und unwahrscheinlich das klingt – Krieg kommt.

Wofür sie kämpfen, das wissen die ukrainischen Soldaten offenbar sehr gut. Und sie können kämpfen und wollen das auch, selbst wenn der Gegner übermächtig scheint und seine 6000 Atomwaffen direkte militärische Hilfe von aussen unmöglich machen. Die ukrainische Armee (die 2021 gerade mal einen Etat von fünf Milliarden Euro zur Verfügung hatte) ist heute ein weltweit bewundertes Muster an Tapferkeit.

Um nun jedenfalls Deutschland und seine Verbündeten vor militärischer Aggression zu schützen, müssen unsere Streitkräfte heute, nach einer ganzen Soldatengeneration, umschalten vom anders gearteten Mindset der bisherigen Auslandseinsätze hin (und in gewisser Weise zurück) zur kollektiven Verteidigung mit allem, was man hat.

Wirksame Abschreckung beginnt mit dem Willen, sich zu verteidigen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner „Zeitenwende“-Regierungserklärung die Wiederherstellung der vollen Wehrhaftigkeit unserer Demokratie angekündigt. Und wohl nicht ganz zufällig lautete das letzte Wort seiner Rede: „verteidigen“. Das erfordert zweifellos ab sofort mehr Geld und bessere Strukturen der Bundeswehr, aber die neue Wehrhaftigkeit erfordert auch, vielleicht sogar vor allem einen Wandel der Einstellung: politisch, gesellschaftlich, persönlich. Und auch im Militär selbst. Die Debatte darüber hat gerade begonnen.

Dieser Artikel erschien am 12.06.2022 unter https://www.thepioneer.de/originals/thepioneer-expert/articles/keine-phrase-mehr-tapfer-verteidigen

Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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1 Kommentar

  1. Rudolf Horsch

    Die Forderung nach geistiger Vollausstattung und einem realitätsgerechten Mindset unserer Soldatinnen und Soldaten bedarf andererseits einer Entsprechung bei denjenigen, die im Fall des Falles in den Genuss dieser Tapferkeit und Treue kommen: nämlich von Staat und Gesellschaft.
    Mit der Bereitstellung von Milliarden für die Bundeswehr ist diese staatliche und gesellschaftliche Verpflichtung bei weitem nicht erfüllt.
    Die Frage ist: Wie gelingt es, zu einem realitätsgerechten Mindset in der Gesellschaft im Hinblick auf die Bundeswehr und zu einer glaubwürdigen kollektiven Verteidigung zu gelangen?

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Dr. Hans-Peter Bartels (* 7. Mai 1961 in Düsseldorf) gehörte von 1998 bis 2015 dem Deutschen Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter (SPD) an. Von 2015 bis 2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und setzte sich in seiner Amtszeit intensiv für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ein. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V.

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