Vor dem Kulminationspunkt?

Clausewitz und die Ukraine

Der sogenannte „Kulminationspunkt“ zählt zu den besonders interessanten und oft zitierten kriegstheoretischen Gedanken von Clausewitz. Auch nach rund 200 Jahren erfährt er jüngst wieder eine höchst aktuelle Relevanz, dies vor dem Hintergrund des Krieges zwischen Russland und der Ukraine.

Als Ausgangspunkt dienen Clausewitz zwei Überlegungen: Zum einen, dass die Verteidigung grundsätzlich die stärkere, der Angriff hingegen die schwächere Form der Kriegsführung sei. Und zum anderen, dass aus eben diesem Grund die Kraft des Angriffs meist im Laufe der Kampfhandlungen nachlasse und sich mehr und mehr erschöpfe. Könne ab einem bestimmten Punkt ein Frieden im Sinne der Angreiferziele nicht erreicht werden, so käme es in der Folge häufig zu einem Rückschlag, dessen Gewalt gewöhnlich viel größer sei als die Kraft des ursprünglichen Stoßes. Dies nennt Clausewitz den „Kulminationspunkt“. Die Waage neigt sich dann also unaufhaltsam in die entgegengesetzte Richtung.

Wenn man dieser Beobachtung folgt und ihre theoretische Relevanz auf heute überträgt, so offenbaren sich erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem aktuellen Überfall Russlands auf die Ukraine. Auch die russischen Streitkräfte galten anfangs numerisch wie waffentechnologisch als derart überlegen, dass ein Angriffserfolg als wahrscheinlich zu bewerten war. (Sonst hätte Putin – den Willen zu rationalem Handeln vorausgesetzt – den rechtswidrigen Überfall wohl auch kaum gewagt.) Sehr rasch stellte sich allerdings heraus, wie sehr dies ein Trugschluss bzw. eine Fehlkalkulation war. Denn sowohl die unerwarteten Schwächen der russischen Angriffskriegsführung als auch die erstaunlichen Stärken der ukrainischen Verteidigung im eigenen Land haben einen raschen militärischen Erfolg Putins verhindert. Derzeit lässt sich von einem weitgehenden Patt auf dem Gefechtsfeld sprechen, auch wenn die russischen Truppen in den vergangenen 3 Monaten einen Teil der Süd- und Ostukraine unter ihre Kontrolle bringen konnten.

Der weitere Verlauf der Kampfhandlungen zwischen den russischen und den ukrainischen Truppen gilt als offen. Klar scheint nur, dass Putin aufgrund bisheriger Fehlschläge wohl zu einer grundlegenden Neubewertung seiner Kriegsziele gezwungen wurde. Der Abzug seiner Kräfte aus der Region um Kiew, die eher begrenzten Erfolge im Donbass und der bisher vergebliche Versuch, der Ukraine vollends den Zugang zum Schwarzen Meer bei Odessa zu verwehren, sprechen dafür. Es scheint, als suche er nun verzweifelt nach wenigstens einigen vorzeigbaren Erfolgen. Das Blatt könnte sich also durchaus wenden, die Initiative in den kommenden Monaten mehr und mehr auf den Verteidiger überzugehen. Der Clausewitz’sche Kulminationspunkt ist damit zwar noch nicht erreicht, aber in durchaus erreichbarer Nähe. Die Zeit spielt jedenfalls zweifellos für die Ukraine, dies auch im Lichte der verstärkten Hilfe von außen.

Die aktuelle Phase des Krieges lässt als eine Art Zwischenfazit nur die Diagnose zu, dass der Clausewitz’sche Nebel des Krieges sich noch nicht gelichtet hat. Alles ist möglich. Vereinfacht gesagt, zeichnen sich derzeit drei alternative Entwicklungsstränge ab:

  • Ein russischer Durchbruch mit anschließendem Diktatfrieden. Diese Variante scheint nach den Erfahrungen der ersten drei Kriegsmonate wenig wahrscheinlich. Das Momentum des Angriffs ist zweifellos gebrochen. Und es spricht kaum viel für die Annahme, dass die russischen Truppen ihre offenkundigen Schwächen (vor allen in Führung, Logistik und Moral) plötzlich überwinden oder die ukrainische Verteidigung in Bälde zusammenbricht. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass Putin seine Truppen in der Ukraine eher nicht mehr entscheidend verstärken kann, ohne die Sicherheit in anderen Teilen des Riesenreiches Russland zu gefährden. Und überhaupt wäre es mehr als fraglich, ob eine großflächige Besetzung der Ukraine auf Dauer durchgehalten werden könnte.
  • Ein Erreichen des Kulminationspunktes mit anschließender strategischer Offensive der Ukraine. Die Zeit spielt eher für diese Variante, sofern die Lieferungen schwerer und auch offensivstarker Waffen von außen einschließlich ihrer geglückten Integration ins ukrainische Kräftedispositiv nun Fahrt aufnehmen. Offen bliebe in diesem Fall, wie weit eine Gegenoffensive erfolgreich getragen werden kann bzw. soll – militärisch wie politisch. Als grobe Zielmarken sind hier vorstellbar: (1) Die Ausgangslage vor Kriegsbeginn am 23. Februar, (2) das Gebiet des ganzen Donbass, also bis hin zur völkerrechtlich anerkannten russisch-ukrainischen Grenze, und (3) sogar die Krim. (Darüber hinaus gehende Ambitionen verbieten sich – unabhängig von deren rechtlicher Bewertung – gegenüber einer Nuklearmacht und sollten von Anfang ausdrücklich ausgeschlossen werden.) Jedenfalls bietet diese Variante, sollte sie sich auf dem Gefechtsfeld abzeichnen, die besten Voraussetzungen für ein Kriegsende, in das beide Seiten dann nolens volens einlenken.
  • Weder Durchbruch noch Kulminationspunkt, sondern langer Abnutzungskrieg mit partiellem Einfrieren bzw. Auflodern des Gefechts. Diese Pattsituation gilt derzeit – mit Blick auf die beidseitige Erschöpfung – als sehr wahrscheinlich. Sie verhindert einerseits den völligen Untergang der Ukraine und entspricht andererseits Putins Minimalinteresse, eine weitere Annäherung der Ukraine an Nato und/oder EU zu blockieren und damit ihre zumindest indirekte Abhängigkeit von Russland zu erhalten. Das bedeutet freilich zugleich: Diese Variante bringt keine Entscheidung, solange parallele diplomatische Bemühungen zur Konfliktlösung nicht durchschlagen. Aber warum soll nun plötzlich das gelingen, was seit 2014 vergeblich versucht wurde? Der Konflikt schwelt dann also auf denkbar hohem Niveau, unter ständigen Eskalationsrisiken und unter unabsehbaren Verlusten auf beiden Seiten weiter – sozusagen als Schrecken ohne Ende.

Welche der drei potenziellen Entwicklungsstränge sich in der militärischen Realität durchsetzt und welche diplomatischen Spielräume sich daraus entwickeln, hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wie lange die Ukraine eine durchgreifende Unterstützung von außen erfährt – dies auch in Form von Informationen, Waffen und Munition. Dieser Gedanke begründet eine zentrale Mitverantwortung aller europäischen Staaten und darüber hinaus.

Über Kersten Lahl

Kersten Lahl (* 6. Juli 1948 in Bielatal) ist Generalleutnant a.D. des Heeres bei der Bundeswehr und war nach seiner Pensionierung von 2008 bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war Kersten Lahl von 1991 bis 1994 Adjutant und militärpolitischer Berater des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und publiziert zu verschiedenen sicherheitspolitischen Themen.

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3 Kommentare

  1. Michael Bischoff

    Sehr gute und wie immer jederzeit nachvollziehbare Analyse, besonders bedanke ich mich aber für den Abschlusssatz.

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  2. Reiner Nieswandt

    Herzlichen Dank für Ihren Verweis auf Clausewitz und herzlichen Gruß. Reiner Nieswandt

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  3. Jörg von Lüdinghausen

    Sehr schlüssig, danke

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Über Kersten Lahl

Kersten Lahl (* 6. Juli 1948 in Bielatal) ist Generalleutnant a.D. des Heeres bei der Bundeswehr und war nach seiner Pensionierung von 2008 bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war Kersten Lahl von 1991 bis 1994 Adjutant und militärpolitischer Berater des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und publiziert zu verschiedenen sicherheitspolitischen Themen.

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