ThePioneer-Kolumne „Situation Room“ von Dr. Hans-Peter Bartels
Was systematische Truppenaufmärsche an der Grenze zum Nachbarn bedeuten können, weiss man in Europa eigentlich noch ganz gut – nicht zuletzt von den Deutschen. Am 1. September 1939 traten zwei deutsche Heeresgruppen mit 50 Divisionen aus ihren Bereitstellungsräumen in Pommern und in der Slowakei zum (später so genannten) „Blitzkrieg“ gegen Polen an. Am 10. Mai 1940 marschierte die Wehrmacht nach langer Bereitstellungsphase in Frankreich, Belgien und den Niederlanden ein. Und am 22. Juni 1941 starteten drei Heeresgruppen mit über drei Millionen Soldaten aus ihren Stellungen entlang der gesamten sowjetischen Grenze, von Ostpreußen bis Rumänien, den deutschen Angriff auf die Sowjetunion.
Da ist nicht viel zusammenzureimen: Wer einseitig aufmarschiert, will angreifen – oder jedenfalls bereitet er einen möglichen Angriff vor. So stellt sich die Lage im Norden und Osten der Ukraine gegenwärtig dar.
Was militärische Analysten wie den ehemaligen Nato-Befehlshaber für Mitteleuropa, Hans-Lothar Domröse, allerdings irritiert, ist nach wie vor die Quantität der zusammengezogenen russischen Manöverelemente: Mit 100.000 Soldaten lasse sich die grosse, flächenmässig riesige Ukraine (44 Millionen Einwohner) nicht wirklich besetzen.
Deshalb rätselt die Nato über möglicherweise begrenztere Ziele Putins: etwa die Annexion der beiden Seperatisten-Bezirke im Donbas oder die Herstellung einer Landverbindung zur besetzten Krim entlang der Schwarzmeerküste über Mariupol. Oder ein „disruptiver“ Stoss auf die Hauptstadt Kiew. Oder eine überraschende weitere Verstärkung der Drohkulisse. Oder einfach eine Rückverlegung der Kampfverbände in ihre Kasernen, wenn alle lange genug Angst vor Krieg gehabt haben. Putin entscheidet.
Die Ukraine wird direkt bedroht und zugleich als Geisel für die Durchsetzung russischer Interessen gegenüber dem Westen vorgeführt. Putin spricht „Sicherheitsinteressen“, als sei plötzlich Russlands Souveränität oder seine territoriale Integrität gefährdet. Nichts davon ist der Fall. Die grösste Atommacht der Erde (mit mehr als 6000 Nuklearsprengköpfen) könnte jeden denkbaren Aggressor noch im Schlaf abschrecken. Niemand bedroht von aussen das russische Vielvölkerreich.
Von innen allerdings mag sich der Kreml aufgrund seiner nicht-demokratischen Herrschaftspraxis mal mehr, mal weniger unter Druck fühlen. Aber dafür sind Russlands Nachbarn und seine Konkurrenten auf der geopolitischen Bühne nicht in Anspruch zu nehmen. Wer Oppositionelle ermorden oder in Lagern verschwinden lässt, schürt selbst die Unerbittlichkeit innenpolitischer Konflikte. Der Appell an imperialistische Sentiments und das Aufheizen von Revisionismus und Chauvinismus mögen da helfen, immer wieder die Reihen zu schliessen.
In Deutschland und auch anderswo im Westen gibt es derweil Diskussionen darüber, ob irgendetwas an der Moskauer Behauptung, militärisch bedroht zu sein, politische Zugeständnisse erforderlich machen könnte. Sollte das der Fall sein, dürften aber diese Angebote des Westens nicht dazu führen, dass Länder wie die osteuropäischen EU-Mitglieder und Nato-Partner oder die Ukraine, Georgien und andere ein Weniger an Sicherheit hinnehmen müssten gegen die erwiesenermassen aggressiven, imperialen Tendenzen Russlands (Abchasien, Südossetien, Krim, Donbas, Transnistrien, Weissrussland, Kasachstan).
Letztlich scheint es Moskau um eine Art exklusive Einflusssphäre nach dem territorialen Zuschnitt der untergegangenen Sowjetunion zu gehen. Ausserdem um eine Schwächung des demokratischen Westens. Und um eine Erweiterung der eigenen Weltgeltung, sei es im Nahen Osten, sei es in Afrika. Das klingt nach Politikzielen aus dem 19. Jahrhundert. Jedoch werden sie verfolgt mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts.
Die Verbesserung des Lebensstandards für die eigene Bevölkerung spielt dabei eine erstaunlich untergeordnete Rolle. Gerade hier aber könnten Kooperation und Partnerschaft mit der Europäischen Union ein Gamechanger für alles sein. Wenn Putin bereit ist, das Hauptspielfeld zu wechseln.
Der Moskauer Standardklage, der Westen sei nach dem Ende der Blockkonfrontation direkt an die Grenzen Russlands herangerückt, kann im übrigen ein Blick auf die Landkarte abhelfen: Die langen Westgrenzen zur Ukraine und zu Weissrussland sowie immer schon zu Finnland sind keine Nato-Grenzen. Nur im äussersten Norden Norwegens (wie bisher) und im Fall der drei kleinen baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen berühren sich das westliche Bündnis und Russland.
Dabei sollte man wissen, dass sich die atlantische Allianz 1997 in der gemeinsam ausgehandelten „Nato-Russland-Grundakte“ zu einem beispiellosen Sicherheitsabstand verpflichtet hat. Sie stationiert in den neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländern, die zu Zeiten der Teilung Europas (nach der Siegermächte-Konferenz von Jalta) dem sowjetischen Block zugesprochen waren und dem Warschauer Pakt angehören mussten, keine Atomwaffen und auch sonst „no substantial combat forces“ anderer Bündnispartner. Daran hält man sich.
Und noch etwas sollte als Sicherheitsgarantie für Russland verstanden werden, auch wenn es heute kaum noch jemand erwähnt: Im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ von 1990 haben die Bundesrepublik und die DDR sich verbindlich verpflichtet, künftig als vereintes Deutschland eine militärische Gesamtstärke von 370.000 aktiven Soldaten nicht zu überschreiten. Bis dahin hatte die Bundeswehr 500.000 und die NVA 170.000 Mann unter Waffen. Kein anderes souveränes Land ist so eine Obergrenzen-Beschränkung eingegangen. (Im Moment liegt die deutsche Truppenstärke bei 180.000.)
Aus geschichtlicher Perspektive versteht wohl kaum ein Land besser als Deutschland das Sicherheitsbedürfnis Russlands – wie auch die historischen Ängste Polens und der baltischen Staaten (in beide Richtungen). Die Krim war im 20. Jahrhundert in zwei Kriegen deutsch besetzt. Die Mörderschlucht Babi Jar gehört zu Kiew. Und vier Mal rollte hin und her der Zweite Weltkrieg verheerend durch die Ukraine. Deutschland hat versucht, seine entsetzliche Geschichte, wie man sagt, „aufzuarbeiten“, Lehren daraus zu ziehen, ein besseres Land zu werden und anderen zu helfen. Mit Erfolg.
Sicherheit ist ein zentrales Thema für Europa. Es ist das Versprechen der OSZE-Schlussakte von Helsinki 1977 und der Charta von Paris 1990. Speziell für die Ukraine (und die weiteren Kurzzeit-Atommächte Weissrussland und Kasachstan) sind territoriale Integrität und Souveränität garantiert durch das „Budapester Memorandum“ von 1994, unterzeichnet von den USA, Grossbritannien und Russland. Diese schwer errungene europäische Friedensordnung gilt es heute wieder zu bewahren.
Dieser Artikel erschien zuerst am 24.01.22 unter: https://www.thepioneer.de/originals/thepioneer-expert/articles/wessen-sicherheit-ist-bedroht
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