What if …? Appeasement gegenüber Putin wäre fatal.

Den russischen Überfall auf die Ukraine vor nun 13 Monaten begleitet von Beginn an eine intensive Debatte, wie der Westen strategisch reagieren solle. Die einen befürworten seit Beginn der Kampfhandlungen eine konsequente militärische Unterstützung des Verteidigers, so wie dies das Völkerrecht auch ausdrücklich zulässt. Die anderen – von dogmatisch putintreuen Protagonisten sei hier einmal abgesehen – fordern angesichts einer angeblich aussichtslosen Lage eine rasche diplomatische Lösung, die im Kern nur auf eine zähneknirschende Duldung russischer Ansprüche hinauslaufen kann. Anhänger des Appeasementflügels verstiegen sich anfangs gar zu der These, für die Ukraine sei eine Kapitulation und die Bildung einer Exilregierung in Warschau oder Berlin die „realpolitisch“ anzuratende Strategie.

Nun, dazu kam es aus guten Gründen nicht. Die russischen Angriffstruppen sind seit Kriegsbeginn weitgehend gescheitert. Aber gleichwohl überziehen sie unvermindert die Ukraine und deren Bevölkerung mit Angst und Terror, dies im Frontgebiet ebenso wie in den besetzten Gebieten und auch auf Distanz in der Tiefe. Die unfassbaren Verluste an Soldaten wie Zivilpersonen und die verheerenden Zerstörungen in dem gesamten Kriegsgebiet erschrecken. Daher sind die Stimmen, die auf ein diplomatisches Einlenken (freilich ohne einen konkreten Vorschlag bieten zu können) und auf „Interessenausgleich“ mit Russland drängen, nicht verstummt. Und natürlich sind solche Forderungen auch ernst zu nehmen. Denn alle wünschen sich ja ein Ende dieses Schreckens. Zugleich kann aber niemand behaupten, im Besitz eines Schlüssels zur Lösung der unhaltbaren Lage zu sein – eine Lösung wohlgemerkt, die nicht nur den Krieg beendet, sondern auch die berechtigten Interessen der ruchlos angegriffenen Ukraine angemessen wahrt und den fundamentalen Regeln der Völkergemeinschaft entspricht.

In einer solch schwierigen Entscheidungssituation muss man vor allem nach vorne schauen. Zugleich lohnt sich aber auch der eine oder andere Blick zurück, um eine bessere Grundlage für anstehende Weichenstellungen zu erhalten. Konkret ist es interessant abzuschätzen, welche vermutlichen Folgen etwa mit einem Ausbleiben westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine – was zweifelsfrei deren staatlichem Existenzverlust gleichkäme – verbunden (gewesen) wären. Das wirft also die Frage nach einem „what if?“ auf, falls Russland in diesem Krieg noch aggressiv etwas gewinnen sollte. Das alles ist natürlich spekulativ. Durchaus nachvollziehbar erscheinen aber fünf Resultate:

1. Terror und Unterdrückung für die ukrainische Bevölkerung

Die Bilder von Butscha, Irpin und anderen Orten des Gräuels sprechen dieselbe Sprache wie die unfassbaren Meldungen über massenhafte Vergewaltigungen von Frauen und Deportationen von Kindern, die nun sogar zu einem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Putin geführt haben. Die Folgen einer russischen Machtübernahme vor Ort wären mit hoher Gewissheit katastrophal für alle, die zu einer aktiven unterwürfigen Kooperation nicht bereit sind. Eine Art Wiedergeburt stalinistischer Säuberungen möchte man sich nicht näher ausmalen, ist aber in diesem Szenario sehr realistisch. Ein friedliches Zusammenleben in einer durch Russland gewaltsam unterdrückten Ukraine scheint nach allem, was seit 2014 vorgefallen ist, jedenfalls undenkbar.

2. Hohes Existenzrisiko für alle Staaten Osteuropas

Im Falle einer russischen Besetzung oder Annexion der Ukraine ändert sich die Bedrohungslage für alle Staaten in der erweiterten Nachbarschaft dramatisch. Zum einen würde Putin in der Strategie einer imperialen Ausdehnung des russischen Machtbereichs nachhaltig bestärkt. Und zum anderen wären bei zahlreichen Völkern in der Region schlimme historische Erinnerungen erneut und unausweichlich präsent. Die größte Gefährdung beträfe zweifellos einige der ehemaligen Sowjetrepubliken, namentlich Moldau oder Georgien – weil ohnehin bereits in Teilen von russischen Truppen besetzt – sowie die baltischen Staaten trotz Nato-Mitgliedschaft. Hinzu kommt der ganze erweiterte Raum des Schwarzmeers und Zentralasiens, dies auch mit Blick auf das dortige energiepolitische Potenzial. Auch die ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten Polen, Rumänien und andere müssten ihre Risikoabschätzung völlig neu justieren. Denn es gibt keinen Grund für die Annahme, Putins Machthunger sei im Falle eines Teilerfolgs seiner aggressiven Übergriffe irgendwelchen engen Grenzen gesetzt. Sein Anspruch zielt zweifellos auf den Einflussbereich der Sowjetunion vor deren Zerfall.

3. Ganz Europa erneut als Region der Hochrüstung

Aber nicht nur für unmittelbar Betroffene würde sich die sicherheitspolitische Lagebeurteilung drastisch ändern, sondern weit darüber hinaus und insbesondere für ganz Europa. Alle Mechanismen des Ost-West-Konflikts, der Europa zu einem Kontinent unvergleichlicher Hochrüstung mit allen damit verbundenen Risiken im Falle auch ungewollter Eskalationen gemacht hat, würden wieder aufleben. Klar, die Zeitenwende zeigt auch so tendenziell in diese Richtung. Das nun schmerzhaft wahrgenommene Ende vieler bequemer Illusionen zwingt ohnehin zu einer künftig sehr viel robusteren Sicherheitsvorsorge. Aber ebenso klar ist, wie sehr dieser Prozess beschleunigt und verstärkt wird, falls die politischen und militärischen Ambitionen Moskaus auch nur ansatzweise erfolgreich sein sollten.

4. Scheitern aller Ansätze zur Nichtverbreitung von Nuklearwaffen

Im Budapester Memorandum 1994 hat sich die Ukraine zur Abgabe all ihrer Nuklearwaffen an Russland bereit erklärt – dies im Austausch gegen Garantien unter anderem auch ausgerechnet Russlands zur Achtung der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität. Dieser Verweis stärkt die Behauptung: Der Anreiz für alle Staaten der Welt (nicht zuletzt im gesamten eurasischen Bereich und im Mittleren Osten), sich vertraglich und faktisch zum Abbau oder zum Nichterwerb nuklearer Rüstung zu bekennen, geht nach dem Vertragsbruch Putins gegen Null. Die Attraktivität eines Besitzes militärisch nutzbarer nuklearer Fähigkeiten ist im Gegenteil dramatisch gestiegen. Es wäre damit ein fatales weiteres Signal, setzte sich die Gewissheit durch, dass nukleare Habenichtse im Ergebnis alleingelassen werden und schutzlos den Aggressionen von Nuklearstaaten ausgesetzt sind. Das gesamte globale Nichtverbreitungsregime stünde de facto vor dem Aus, sofern das Vorgehen Putins und seine unverhohlenen nuklearen Drohungen sich als erfolgreich erweisen sollten.

5. Dramatischer Rückschlag für globale Problemlösungen

Die Welt steht vor globalen Aufgaben, die nur im kooperativen Miteinander bewältigt werden können. Als Beispiele seien der Klimawandel mit all seinen Folgen gerade auch für die ohnehin ärmeren Regionen, die wachsenden Probleme von Hunger und Armut, die zunehmend verstärkten Wanderungsbewegungen oder die Beherrschung neuer Technologien (etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz oder der Weltraumforschung) zu nennen. Um dies alles halbwegs erfolgreich anzugehen, bedarf es einer stabilen Grundlage gegenseitigen Vertrauens. Gewaltsame Aggressionen, klare Vertragsbrüche und nicht zuletzt auch eine (stillschweigende) Duldung derselben stehen diesem Erfordernis diametral entgegen. Setzt sich also der Eindruck durch, Russland könne von seinem Überfall auch nur teilweise profitieren, wird breites internationales Misstrauen die Grundlagen für die so wichtige Kooperation beseitigen und jede Lösung der eigentlichen globalen Zukunftsaufgaben unterlaufen.

So viel zu den vermutlichen Folgen, die einen naiven Appeasement-Ansatz gegenüber Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit begleiten würden. Klar ist: Die Suche nach einer durchgreifenden diplomatischen Lösung der aktuellen Problemlage muss oberste Priorität erhalten. Aber ebenso klar ist auch: Es geht nicht nur um ein Ende oder ein (vorübergehendes) „Einfrieren“ von Kampfhandlungen in der Ukraine. Es geht um weit mehr.

Kersten Lahl (* 6. Juli 1948 in Bielatal) ist Generalleutnant a.D. des Heeres bei der Bundeswehr und war nach seiner Pensionierung von 2008 bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war Kersten Lahl von 1991 bis 1994 Adjutant und militärpolitischer Berater des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und publiziert zu verschiedenen sicherheitspolitischen Themen.

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1 Kommentar

  1. Dasdin Duman

    Die „strategische Dimension“ des Völkerrechts ist es, welche Anhängern einer – wohlgemerkt sofortigen und unbedingten – Verhandlungslösung skizziert werden muss.
    Das Völkerrecht beabsichtigt in seiner Gestalt als „überstaatliches Verfassungsrecht“ – treffender ist auch aufgrund der permanenten (Völker-)Rechtsbrüche die Beschreibung als „universelle Verhaltenspflicht“ – für eine friedliche Koexistenz der Staatengemeinschaft zu sorgen. Dieses Bestreben manifestiert sich namentlich in der UN-Charta und ihren Bestimmungen, wie die souveräne Gleichheit aller Staaten (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta) und dem allgemeinen Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta). Der Bruch der völkerrechtlichen Bestimmungen durch Russland mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine ist den vermeintlichen „Verfechtern für den Frieden“, die sich in jüngster Zeit um das Duo (?) Wagenknecht-Schwarzer mit ihrem „Manifest für den Frieden“ gescharrt haben, genauso klar wie uns auch.
    Doch die Klarheit des Rechtsbruchs wird getrübt von der Konsequenz die daraus gezogen werden soll: Der bereits angesprochenen Verhandlungslösung.
    Nun ist das Völkerrecht als generell friedensorientierter Rechtsrahmen bestrebt, gewaltsame Konflikte zwischen Staaten (schnellstmöglich) friedlich zu lösen. Folglich könnte man annehmen, dass die Forderungen nach sofortigen Friedensverhandlungen verbunden mit dem (denklogischen) Stopp jeglicher (militärischer) Unterstützungsleistungen an die Ukraine zur Schaffung eines Dialogfundamentes mit Moskau, im Sinne des Völkerrechts sind.

    Doch Strategie ist nicht Taktik.
    Unabhängig der von Herrn Lahl aufgestellten informativen, aber zugleich erschreckenden fünf Entwicklungsmöglichkeiten („what if?“), strebt die internationale Ordnung nach nachhaltiger Existenz ihres „Seins“, das heißt die langanhaltende Akzeptanz als normative Ordnung und damit von sich heraus auch die langanhaltende Unterwerfungsbereitschaft der Staaten. Von Nachhaltigkeit kann bei einem sofortigen Friedensschluss nicht gesprochen werden. Vielmehr würde ein solcher, der mit großen Konzessionen an Russland verbunden wäre, zu der faktischen Selbstaufgabe der Völkerrechtsordnung JEDENFALLS in ihrem nachhaltigen Achtungsanspruch führen: Anhaltender Frieden kann nur gelingen, wenn die Signalwirkung aus diesem Krieg die Einsicht bekräftigt, dass der Prosperität eines jeden Staates und Volkes innerhalb der internationalen Ordnung weit mehr geholfen ist als außerhalb dieser.

    Die Kurzsichtigkeit von Wagenknecht & Co entfacht das Bedürfnis, diesen doch beachtlichen und respektablen politischen Akteuren die „Brille“ des strategischen Völkerrechts aufzusetzen.

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Kersten Lahl (* 6. Juli 1948 in Bielatal) ist Generalleutnant a.D. des Heeres bei der Bundeswehr und war nach seiner Pensionierung von 2008 bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war Kersten Lahl von 1991 bis 1994 Adjutant und militärpolitischer Berater des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und publiziert zu verschiedenen sicherheitspolitischen Themen.

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